Ohne Bauplan kein Leben

Weit bevor Menschen Baupläne für ihre Häuser entwarfen, waren sie schon da, die Baupläne für die Bakterien und Viren und die für Pflanzen, Pilze und Tiere. Ebenso die Baupläne für uns selbst, uns Menschen. Noch vor dem Aufkommen der Evolutionstheorie, zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dämmerte es den Wissenschaftlern, dass für die Tier- und Pflanzengruppen jeweils so etwas wie ein Grundtyp existiere. Archetypus wurde das genannt, einer für die Wirbeltiere etwa, ein anderer für die Mollusken, zu denen die Schnecken und Muscheln gehören. In demselben Sinne entwickelte der französische Zoologe Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (1788 – 1844) die Vorstellung von einem plan d'organisation, wie er das damals nannte. Hiernach sei eine Art von Ideal vorgegeben, das sich dann irgendwie in den einzelnen Tier- und Pflanzenformen „widerspiegele“. Etwas von dieser Art war schon bei den Philosophen des antiken Griechenlandes angeklungen. Platons „Ideen“ sind damit gemeint. Auch Goethe spielte mit solchen Gedanken. Er entwarf das Modell einer „Urpflanze“, von der sich alle Blütenpflanzen ableiten lassen sollten (in „Metamorphose der Pflanze“, 1790).

Der Begriff „Bauplan“ spielt auch noch in der heutigen Biologie eine Rolle. Untersetzt wird er durch ein riesiges Fundament, für das die moderne Evolutionstheorie und die Genetik gesorgt haben und durch täglich neue Befunde auch weiterhin sorgen. Jedes Schulkind weiß davon. Zumindest sollte es das. Selbst diejenigen, die hierüber Genaueres wissen, können sich der Faszination nicht entziehen, die einen packt, wenn man die Planmäßigkeit der Entwicklung eines Organismus im Konkreten verfolgt.

Der springende Punkt

Klassisches Objekt dafür ist die Keimscheibe im bebrüteten Hühnerei. Nicht nur die Studenten der Biologie, auch die der Medizin dürfen sich daran intellektuell weiden. Oder durften, womöglich weil mittlerweile gegen alberne Tierschutzbestimmungen gerichtet? Gleichviel, jeder kann das Experiment in der stillen Küche auch zuhause machen. Nach dem dritten Bebrütungstag klopfe man ein Fenster in die Eischale (nur in die eines „glücklichen“ Huhnes natürlich!) und siehe da: Schon mit bloßem Auge ist auf der Oberfläche der Dotterkugel der „springende Punkt“ auszumachen. Die Bezeichnung geht auf Aristoteles zurück, dem dieses pulsierende Etwas auch aufgefallen war. Es ist das noch primitive Herz des werdenden Hühnchens, nichts anderes als ein mit Muskelzellen umgebener Gefäßschlauch. Wer eine Lupe zur Hand nimmt, erkennt mehr. Nämlich die noch sehr einfach gestrickten Blutgefäße, in denen im Rhythmus dieses springenden Punktes rote Pünktchen strömen, Blutzellen. Der Strom geht von diesem springenden Punkt aus, dem kleinen Herzelein, teilt sich an den Gefäßverzweigungen und führt dann zu seinem Ursprung zurück: ein Blutkreislauf. Mikroskopische Techniken angewendet, kann man verfolgen, wie sich aus der zunächst noch scheibenartigen Anlage, Keimscheibe genannt, nach und nach das herausbildet, was am Ende ein Küken ist. Zwischendurch gibt es Stadien, die denen eines Fisches gleichen und späterhin denen eines Amphibiums.

Überall bei der Entwicklung von Lebewesen haben wir es mit Bauplänen zu tun, uralten, die verändert und nur grob skizzierend zu den endgültigen hinführen. Das gilt genauso für unsere eigene Entwicklung. Zum Beispiel bildet sich in der vierten Schwangerschaftswoche ein Kiemendarm heraus, wie er in seiner einfachsten Form noch heute bei den ursprünglichen Wirbeltieren anzutreffen ist, den Neunaugen. Aus der embryonalen Kiemendarmanlage gehen in unserer späteren Entwicklung unter anderem das Zungenbein hervor, der Kehlkopf und die Nebenschilddrüsen. Sie regulieren mit ihrem Parathormon die Calciumkonzentration im Blut. Nichts, was wir an Organen und Organsystemen zu bieten haben, entsteht „einfach so“, alles entwickelt sich seinem jeweiligen Bauplan gemäß. Auch unser Gehirn.

Gehirn nach Plan

Zunächst bilden sich Hirnbläschen, wie sie denen der Fische im Erwachsenenstadium entsprechen. Wochen vor dem Ende der Schwangerschaft wird daraus das menschentypische Gehirn. Allerdings ist es zur Zeit der Geburt noch nicht reif, wiegt etwa nur 300 Gramm. Erst gegen Ende der Kindheit wächst es zu seiner endgültigen Größe heran und wiegt beim Erwachsenen dann knapp anderthalb Kilogramm. Alles geschieht weiterhin nach einem Plan, wie er sich in der Evolution der Säugetiere, hier im Entwicklungszweig der Affen, und schließlich dem des Menschen, herausgebildet hat. Gleichzeitig mit dem Hirnwachstum reifen die Verhaltensprogramme und mit ihnen die menschentypischen Verhaltensformen bzw. -tendenzen. Selbst die Anpassungsfähigkeit durch Lernvorgänge ist Teil des Bauplanes. Erst im frühen Erwachsenenalter ist das Gehirn vollreif, und erst dann ist der Mensch für sein Tun voll verantwortlich.

Die Frage nun: Woher kommen diese Baupläne? Für den Religiösen ist die Antwort einfach. Für jene, die den Schöpfungsgedanken ablehnen, ist die Antwort nicht so einfach, dafür aber plausibel: durch die Evolution, durch einen sich über Millionen, ja Milliarden Jahre erstreckenden Selbstoptimierungsprozess. Wer dieses Prinzip jemals wirklich verstanden hat, vergisst es ebenso wenig wieder wie das Fahrradfahren. Umgekehrt: Wer am Evolutionsprinzip zweifelt, hat es nicht verstanden – zumindest nicht ausreichend. Unzählig sind die Belege, die die Wissenschaft für die Gültigkeit vorweisen kann. Den Unterbau liefert die Genetik. Er reicht bis hinunter zur molekularen Ebene, auf der die Niederschriften für die Baupläne formuliert und archiviert werden. Winzige und rein zufällige Änderungen in diesem Erbgut sind es, die die Baupläne in Struktur und Funktion verändern. Zumeist erweisen sich solche Änderungen als ungünstig und werden irgendwann im Laufe der weiteren Entwicklung durch Benachteiligung solcher Individuen ausgesondert. Die wenigen – ebenso zufällig – zweckdienlichen Veränderungen sind es, auf die es ankommt. Sie begünstigen die Individuen, indem sie ihnen bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen einräumen. Bei einzelnen ihrer Nachkommen mögen sich wiederum Erfolg versprechende Änderungen ereignen. Das Ergebnis ist eine sich über Generationen erstreckende Folge von Optimierungen. Auf diese Weise kam es zu immer neuen Varianten schon vorhandener Baupläne, mithin zu Entwicklungsketten und auch zu deren Verzweigungen. Die Zweig-Enden werden von Grünalgen und AIDS-Viren gebildet, von Rotbuchen und Kohlweißlingen. Und von uns, uns Menschen! Prof. Dr. Gerald Wolf

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