Machdeburch, ich habe dich unterschätzt!

Ich war noch keine 20 Jahre alt, als die Welt weit, unendlich weit erschien und Magdeburg ziemlich eng, zu eng für meine Visionen und Ideen. Dabei hatte ich damals keinen blassen Schimmer davon, wie eng meine Gedankenwelt war. Manchmal ging ich in den Dom und wollte unter dem hohen Dach des Kirchenschiffes eine Ahnung von Geschichte einatmen. Doch die Vergangenheit blieb in einem mys-tischen Nebel. Als ich meinen Lebensmittelpunkt nach Berlin verlegt hatte, dachte ich dort wäre der Maßstab für das Tempo der Weltbewegung. Der grauen Provinz an der Elbe mit ihren Industrieschloten, den verrußten, bröckelnden Altbaufassaden rund um den Hasselbachplatz und der ausgeuferten Plattenbausiedlungsmonotonie hatte ich für immer den Rücken gekehrt, dachte ich.

Ich mochte damals geglaubt haben, dass mein Horizont ein weiter sei, einer der über den Tellerrand seiner bescheidenen Heimstadt hinausblicken wollte. Zugleich belegte ich die Stadt meines Aufwachsens mit negatvien Urteilten. Im Geiste zurückgeblieben, spießig, in ihrer Substanz einfallslos, im Sichtbaren schmutzig, im Erleben laut und schwerfällig – das waren Begriffe, unter denen ich Magdeburg manches Mal begreifen wollte. Es war jedoch mein Erfahrungshorizont ein enger, der noch nichts vom Wandel seiner Stadt begriffen hatte, der sich keine Vorstellung davon machen konnte, mit welchen Mühen und mit wie wenigen Möglichkeiten, sich Magdeburger aus den Trümmern des Krieges erhoben hatten, um die Stadt wieder bewohnbar zu machen. Was wusste ich, wie sich Krieg anfühlte und die Entbehrungszeit danach. Ich hatte keine Ahnung und mir meine Maßstäbe aus einer Selbstverständlichkeit gebildet, in die ich hineingeboren worden war.

Heute, da mich die Heimatstadt in 28 Jahren wieder integriert hat, bekomme ich eine Vorstellung davon, welche gewaltige bauliche Umwälzung Magdeburg seit 1990 erlebte. Manchmal wünschte ich mir, ich könnte noch einmal durch die düstere Otto-von-Guericke-Straße laufen. Aber ich habe gar Schwierigkeiten, mir das damalige Stadtbild meiner Jungendzeit zu vergegenwärtigen. Alte Schwarz-weiß-Fotos erzählen mir noch ein wenig wie meine Welt damals aussah. Und obwohl ich das alles bewusst durchlebte, macht mir das den Blick zurück in die Geschichte kaum lebendiger. Wie mag es heute einem jungen Menschen ergehen, einem, der um die Jahrtausendwende geboren wurde und dem der aktuelle Puls der Landeshauptstadt wie naturgegeben vorkommen mag. Ich konnte also in meinen jungen Jahren nicht sehen, wie die Generationen meiner Großeltern und Eltern Magdeburg bereits verändert hatten. Der Geruch ihres Arbeitsschweißes war so lange verflogen, ihre Schmerzen waren nicht fühlbar und ihre Entbehrungen waren mündliche Überlieferungen oder Texte in Geschichtsbüchern.

Magdeburg – du bist nicht mehr die Stadt meiner Kindheit und Jugend und bleibst es doch. Hin und wieder begegnet mir so ein Satz wie: „Hier ist doch nichts los.“ Ich frage mich dann, was mit solchen, die so einen Satz sagen, eigentlich los ist? Viel kann es nicht sein. Wenn sie sehr jung sind, habe ich Verständnis für die Sichtweise, aber bei Menschen, die die Lebensmitte überschritten haben oder gar älter sind, kann ich nur den Kopf schütteln. Man muss schon eine enge und abgehobene Position einnehmen, wenn man den Wandel dieser Stadt nicht wahrhaben will. Natürlich kann ich mich genauso gut wie andere über die Tunnelbaustelle am Damaschkeplatz aufregen. Aber dann denke ich wieder an den Dom und daran, dass dessen Fertigstellung 313 Jahre dauerte. Für den Kölner Dom brauchte man gar über 600 inklusive einer 300-jährigen Baupause. Nach heutigen Maßstäben hätte der Kölner Dom die sagenhafte Summe von 10 Milliarden Euro verschlungen. Wie viel Geld der Magdeburger Sakralbau damals verschlungen hat? – ich habe keinen blassen Schimmer.

Heute frage ich mich oft, wie wenig Platz in unseren Köpfen für Heimatgeschichte ist. Die ist eben kein Lehrbuch mit ein paar Geschichtszahlen und großen Ereignissen, sondern ein unüberschaubares Sammelsurium an Ideen, Mut und Taten. Nicht jedem ist es vergönnt, für die Stadt ein Bauherr sein zu können und sei es einer, der mit seinem kleinen Eigenheim das Gebäudeensemble bereichert. Jeder alte und jeder neue Stein, der hier aufgeschichtet wurde, ist ein Zeugnis dafür, dass Magdeburger an die Zukunft ihrer Stadt glauben.

Noch eines kann ich erst heute besser einordnen: Die Bauvorhaben, die aktuell in der Landeshauptstadt in Angriff genommen werden, sind von einer Größenordnung, die das Antlitz der Stadt noch einmal ganz neu prägen. Heute weiß ich, dass meine jugendlichen Urteile engstirnig und ungerecht waren. Machdeburch, ich habe dich unterschätzt! Thomas Wischnewski

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