Ich über allem oder die Kapitulation des Individuums?

Einmal wird sich ein Mensch seiner selbst bewusst. Am kleinen Wörtchen „ich“ hängt alles. Was die Welt im Innersten zusammenhält, wird der wissensdurstige Forscher nicht in der Unendlichkeit des Universums finden, sondern im Kern des Individuums. Das ganze Leben dreht sich ums Ich. Dabei ist eine Person gar nicht ohne all die anderen denkbar, vielleicht nicht alle, aber doch braucht es ein gesellschaftliches Umfeld für Prägungen, fürs Lernen und Weitertragen der Begriffe und Bedeutungen, in die schließlich jedes Ich eingebettet ist. Doch wohin driftet das moderne Ich, wenn es sich fortwährend unter einer Art Selbsterhöhung begreifen soll?

Jeder Mensch ist einzigartig und kreativ. Daran gibt es keinen Zweifel. Doch entsteht unter permanenten Proklamationen nach Selbstverwirklichung nicht imaginäre Herauslösung des Individuums aus dem Gemeinschaftsverständnis? Werbebotschaften senden viele Floskeln: „Du weißt am besten, was für dich gut ist …“, „Gönn’ dir was …“, „Du bestimmst …“ etc. Einzigartigkeit reicht nicht mehr. Unter den Besonderen muss man noch besonderer sein. Wer sein Leben meistert, darf sich nicht mehr als kreativ bezeichnen. Darüber schraubt sich ein Verständnis außergewöhnlicher Innovationsfähigkeit. Ich zu sein, reicht heute offenbar nicht mehr aus. Herausstechen, andere überstrahlen, im Mittelpunkt zu stehen und von vielen bewundert zu werden – das scheint einzig zum modernen Lebenssinn zu avancieren.

Sicher, es sind nicht alle so. Aber wie behauptet sich das Individuum in einer Sphäre, in der zu viele auf selbstgebauten Bühnen tanzen – egal, ob solche Facebook, Instagram oder Youtube heißen. Anderen nachzueifern, gehört zu unserer natürlichen Begabung. Nur wer etwas besser als ein anderer macht, kommt weiter. Doch wie weit soll das gehen, wenn sich schon heute junge Menchen im Internet einen Selbstinszenierungswettlauf um Tausende oder gar Millionen Verfolger liefern? Schafft das wirklich Gemeinschaft oder doch eher Vereinzelung. Im Erfolg ist man einsam. Im Misserfolg meistens noch mehr. Schon im vergangenen Jahrhundert wussten Menschen aus eigenem Erleben, dass man unter vielen öfter allein ist als unter wenigen.

Vielleicht sollte man hin und wieder gedanklich in die Vergangenheit eintauchen und sich bewusst machen, dass eine überschaubare Anzahl an unmittelbaren Lebensbegleitern eine andere Nähe und möglicherweise eine intensivere Aufmerksamkeit erzeugten. Wer nicht mit einer vermeintlichen riesigen Gemeinschaft kommuniziert, verfügt einfach über mehr Zeit für die wirklich bedeutsamen Menschen in seinem Umfeld.

Doch heute lauern Vorbilder und Heldinnen in jedem Kanal. Und jede oder jeder signalisiert unterschwellig: Schaut her, macht es mir gleich. Dann könnt ihr genauso im Rampenlicht stehen. Wenn doch der Erfolg nicht so trügerisch wäre. Der Facebook-Mitgründer Sean Parker hat die Plattform kürzlich scharf kritisiert. Er sei mittlerweile aus Gewissensgründen zu einem Social-Media-Verweigerer geworden. Bei Facebook sei von Anfang an die Überlegung gewesen, wie man Menschen dazu bringen könne, der Seite möglichst viel Zeit und Aufmerksamkeit zu widmen. „Wir müssen den Menschen ab und zu einen kleinen Dopaminschub geben, das passiert, wenn jemand Sachen von dir liked oder ein Foto kommentiert. Es ist ein Feedback Loop, der auf dem Drang der Menschen nach sozialer Bestätigung basiert. (...) Wir haben eine Schwachstelle in der Psychologie der Menschen ausgenutzt. Die Erfinder, also ich und Mark (Zuckerberg) und Kevin Systrom (Instagram) wussten das. Und wir haben es trotzdem gemacht“, sagte Sean Parker.

Nun hängen Millionen in der Online-Schleife und schleifen ihr Ich. Wie will jemand unter dem Herausstechen Tausender noch ein Herausragender werden? Findet ein Individuum wirklich zu der Art Individualität, wenn jeder noch individueller als der andere sein will? Mit gesundem Menschenverstand weiß man, dass man ohnehin einzigartig ist. Es bedarf dafür keiner Bestätigung ungezählter anderer. Wer Einsamkeit oder Alleinsam beklagt, wer Nähe und Geborgenheit entbehrt, könnte zunächst prüfen, wie viel Tageszeit in der Virtualität verbracht wird. So wie die gebratenen Hühnchen nicht aus dem Bildschirm fliegen, werden es auch keine wirklichen Streicheleinheiten oder ein erlebbares Vertrauen sein. Vor der Potenzierung virtueller Individualität muss das Individuum irgendwann kapitulieren. Thomas Wischnewski

Zurück