Einfach anfangen

Ich glaube, wir machen das seit vier Jahren. Im Kulturverein fiel sie mir auf. Wir sprachen miteinander. Als es auf Weihnachten zuging, fragte ich, ob sie mit mir die Christvesper halten würde. Der Ort, in dem dies stattfinden sollte, hatte noch ein paar offizielle Kirchenmitglieder, aber eigentlich keine Gemeinde mehr. Ja, sagte sie, warum nicht. Sie brachte ihre erwachsene Tochter mit. Wir hielten die Christvesper zu dritt. Es war nicht keiner da, sondern immerhin dreißig Leute. Viele davon eigentlich eher ohne Bezug zur Kirche. Die alte, romanische Kirche aber, eine ehemalige Wehrkirche, lebte an diesem Abend. Das war vor allem den beiden Damen zu verdanken, die mit mir die Christvesper feierten. Ich fuhr fröhlich nach Hause. Ich war froh, dass ich die Predigt aufgeschrieben hatte. Dass sie also für mich kontrollierbar blieb. Dass sie ohne das ganze fromme Vokabular auskam, dass Predigten heute so unhörbar macht. Gerade bei der Entstehung der Predigt hatte ich sie vor mir und besprach mit ihr im Geiste, was wie gesagt werden sollte. Sie war der Spiegel meiner Predigt. Womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte: Nach drei Jahren Christvesper sagte sie mir, dass sie sich hier, in ihrer Kirche, taufen lassen möchte. Nicht die Tatsache, dass sich jemand taufen lassen möchte, brachte mich aus dem Konzept, sondern dass ich überhaupt nicht auf die Idee kam, dass sie bis dahin gar kein Kirchenmitglied war. Wir hatten darüber nicht gesprochen. Ich hatte nur gefragt, ob sie Freude daran habe, mit mir die Christvesper zu gestalten. Solche Begebenheiten sind es, die mir die Vereinsarbeit in Dalchau, einem Ortsteil der viertgrößten Stadt der Bundesrepublik Deutschland, gut, flächenmäßig, aber immerhin mit freilaufendem Wolfsrudel (wenn man den Jägern glaubt, sind es so viele Wölfe, also Raubtiere, dass bereits sämtliche Rehe und Rotkäppchen gefressen wurden, mit Haut und ,) lieb machen.

Eigentlich muss man anders beginnen: Als ich vor etwa zehn Jahren zum ersten Mal die St.-Anna-Kirche in Dalchau betrat, war das Liebe auf den ersten Blick. Einer der früheren Pastoren hatte die holzwurmzerfressenen barocken Aufbauten seinerzeit aus der Kirche geschmissen. Zurück blieb der romanische Raum, der mauernumstandene Raum einer romanischen Wehrkirche. Die Sitzbänke waren einfach in den leeren Raum mittig hineingestellt und ließen links und rechts Platz. Dass die Sankt-Anna-Kirche auf der Straße der spätgotischen Flügelaltäre ist, hat sie ihrem solchen zu verdanken. Der aber weist eine Besonderheit auf: In einem seiner Flügel steht die aus Holz geschnitzte Skulptur der seligen Jutta von Sangerhausen. Jutta lebte zur Zeit der Elisabeth von Thüringen und der Mechthild von Magdeburg. Die Damen kannten sich. Hatten zumindest voneinander gehört. Jutta, verwandt mit dem Hochmeister des Deutschen Ritterordens, Anno von Sangerhausen, der gerade das Land der Pruzzen erobert hatte, zog ins eroberte Land, in die Nähe des Kulmer Sees, ins kleine Örtchen Bildschön, wie es damals benannt war. Hier pflegte sie die Ärms-ten der Armen in einem kleinen Spital, die Aussätzigen. Die Slawen, die Polen, behielten die Deutsche in verehrender Erinnerung, daran konnten auch die verheerenden Kriege nichts ändern. Mit ihr müsste es etwas zu tun haben, wollte man hier in der St.-Anna-Kirche Ausstellungen machen. Der Name für die Kulturreihe war schnell gefunden: BILDSCHOEN IN DALCHAU. Holz & Toene.

Klar, ein Ausstellungsraum für Holzbildhauer ist diese Kirche. In Siegfried Sack, einem Dresdner Künstler, fanden wir einen ersten, der tatsächlich ausstellen wollte. Wir, dahinter steckten die Leute vom heutigen KulturVeste Loburger Land. Der Schritt vom Ich zum Wir war schnell gegangen, auch wenn das ein kleines „wir“ ist, noch keine Massenbewegung. Aber immerhin. Zudem gibt es Interessierte, die sich wohlwollend anschauen, was passiert und dieses auch mit Beiträgen unterstützen. Wichtigster Schritt: Man ist nicht mehr alleine. Mit der Kirchgemeinde ist das schwieriger. Nicht, weil man nicht will, sondern eher weil man nicht kann. Aber auch das wächst, zumal auch der Beirat langsam heranrückt. Last but not least: Bei der nächsten Aktion will auch die Dorfgemeinschaft Dalchau mit präsentieren, ein Quasi-Verein, der sich um die Kultur im Ort kümmert, das Gelände rings um die Kirche in Ordnung hält – dort ist auch ein Kinderspielplatz. Der sich um das Grillfeuer kümmert, um die praktischen Dinge also. Es ist seltsam. Aber in der Begegnung von Kirche und Kunst entsteht neues Leben. Nein, es entsteht nicht gleich wieder eine traditionelle Gemeinde. Aber der Raum strahlt etwas aus, das über die Kunst hinaus geht. Und schafft Verbündete: Menschen, die bisher eher eine Scheu hatten, über die Schwelle zu treten, kommen zum Grillabend und wollen nach dem Verzehr von zwei Bratwürsten die Ausstellung betrachten. Eigentlich aber ist das nur der Vorwand, mal wieder in ihre, ja, es ist ihre, entdecken sie gerade, Kirche zu gehen. Wer weiß, wann sie die zum letzten Mal von innen gesehen haben. Sie nähern sich dem Gebäude. Es ist Neugier, vielleicht aber auch die Erinnerung an Heimat. Ja, ganz diffus, aber nicht unmöglich. Und Stolz ist da in den Augen, weil ihre Kirche wieder Bedeutung bekommt. Fremde waren da. Aus Magdeburg, aus Möser, aus Burg, ja, sogar aus Rheinland-Pfalz! Und Stolz ist da auch, weil einer von ihnen, kein Kirchgänger, aber der Ortsbürgermeister, etwas dafür getan hat, dass die Kirche auch innen wieder so ordentlich aussieht, wie sie das draußen immer schon tat. Ja, sagten die Magdeburger nach der Eröffnung der Thomas-Gatzky-Ausstellung 2016, an diesen Grillabend danach denken wir gern zurück. Als alle sich hier auf dem Kirchberg versammelten, um noch miteinander zu schwatzen, ein Bier zu trinken, eine Bratwurst zu essen. Das war so lebendig und ich hatte viele gute Gespräche. So sagen die Magdeburger. Und, das ist auch immer wieder zu hören, da kommt bereits Spannung auf: Wer stellt beim nächsten Mal aus? Was wird es dazu für Töne geben?

Die Künstler kommen, schauen, fühlen sich zu Hause. Kunstverein und Kirchgemeinde haben sich gerade in eine neue Skulptur der Jutta von Sangerhausen geteilt, sie also anteilig finanziert. Im kommenden Jahr wird es zwei Ausstellungen geben: Die Göteborger Textilkunst-Dozentin Tabea Dürr, die einst Paramentik in den Pfeifferschen Stiftungen gelernt hatte, hat sich nach zwei Jahrzehnten mal wieder mit Paramentik beschäftigt. Diese Arbeiten werden im Sommer 2018 zu sehen sein. Im Herbst gibt es die zweite Ausstellung: Gemeinsam wollen die Künstler Thomas Gatzky und Heinz Israel ausstellen. Wer wissen will, wann das stattfindet, der kann auf www.kulturveste-loburgerland.de nachschauen. Diese Seite gibt es inzwischen auch. Ab 20. Januar wird in der Möckeraner Stadthalle eine Fotoausstellung mit Fotografien zum touristischen Netzwerk „Gartenträume“ eröffnet. Sie ist auch mit der KulturVeste Loburger Land entwickelt worden. Es tut sich also etwas.

 

So wird aus der Freude, die man im Anblick des Raumes einst für sich selbst empfunden hat, eine Bewegung, die überschaubar ist, aber nicht mehr zu übersehen. Aus den Lesungen, die ich seit ca. 10 Jahren jeden letzten Freitag im Monat für die Kita „Entdeckungskiste“ in Zeppernick bei uns im Haus mache, auch im Namen der KulturVeste, entsteht die Frage, ob die Kita nicht zu Heilig Abend in Dalchau ein Krippenspiel aufführen darf. Ja. natürlich. Die Kirche war voll. Ja, sicher, da gab es auch Beschwerden, weil die jungen Eltern, oder deren Freunde, noch nie in einer Kirche waren und den eingelernten Verhaltenskodex nicht abrufen können und sich da halt auch mal daneben benehmen. Aber, nähme man mal an, es dürften nur die in eine Kirche, die eine gute Kinderstube hatten, Verhalten im Gotteshaus inklusive: Der Herr hätte seine Kirche ganz für sich alleine. Rechtgläubige nähmen das eher in Kauf als eine Kirche mit dem Staub der Ungläubigen vernebelt zu wissen. Mir scheint, da verschwindet gerade der Glaube im Nebel. St. Anna, war das nicht die Mutter Jesu, also die Großmutter des Mannes aus Nazareth? Der Dresdner Holzschneider fragt sicherheitshalber noch mal nach. Ich will Euch nämlich ein Relief machen, das Ihr über dem Tisch mit den Gesangbüchern anbringen könnt. Da wird Anna zu sehen sein, Maria und Jesus. Das stifte ich Euch, weil ich mich hier so wohl gefühlt habe. Das ist wirklich ein wunderbarer Ausstellungsort.

Auch in diesem Jahr werde ich dort die Christvesper halten. Diesmal mit getaufter Hilfe. Viele haben schon ihr Kommen zugesagt. Auch, weil die „Entdeckungskiste“ wieder ein Krippenspiel aufführen wird. Vorher wird der Pfarrer die St.-Anna-Tafel einweihen, gemeinsam mit dem gemischten Chor Möckern. Ein vorweihnachtliches Konzert, zu dem auch etwas zum Advent gesagt wird. Also eine Art Adventsandacht. Wieder ist entstandene Kunst Anlass, dass im Hause vor Staunenden und vor Glaubenden diese alten Texte aus dem „Buch der Bücher“ Relevanz erhalten.

Wenn die Ausstellungen laufen, braucht man an den Wochenenden immer jemand, der in der Kirche sitzt, die Ausstellung bewacht, aber auch mal durch sie führt oder einfach Leute begrüßt. Schön, dass das zunehmend kein Problem ist. Wir finden die Leute, die bereit sind, auf einen Nachmittag in der Familie zu verzichten, um in der Kirche Dienst zu tun. Leute aus Loburg oder Dalchau. Meine Partnerin bei der Christvesper macht dann vor der Kirche eine Kaffeetafel. Die sieht man. Sie lockt Ausstellungsbesucher an. Außerdem, sagt sie, nehmen die Besucher gern die Gelegenheit zu einem Schwätzchen wahr. Und nein, da wird nicht jeder bekehrt, der in den Dunstkreis der Kirche kommt. Hier findet man zeichenhaft Gemeinschaft, einfach Spaß, sieht was zum Staunen, findet gemeinsame Themen und fühlt sich wohl. Zwischen Kunst und Kirche, und wenn man nun dies wiederum hinterfragt, glaube ich richtig zu antworten, wenn ich sage: Unverbindlich ist das alles nicht. Und es weist weit über die Kirche hinaus, nimmt sie aber mit! Wir empfinden diese Arbeit als ein gemeinsames Bauen an der freundlichen Welt. Das macht es so spannend, das ist längst nicht immer heile Welt, aber es ist etwas von dem, was wir nicht loslassen wollen in diesem Leben. Weil es uns ein „Wir“ gibt. Ludwig Schumann

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