Digital, analog und leibhaftig

In der Zoo-Handlung neulich, ein Streichelgehege für Zwergkaninchen. Eine Göre von fünf oder sechs Lenzen lehnte am Eckpfeiler und tippte auf ihrem Smartphone herum. Gesichtsausdruck zwischen blasiert und gelangweilt. Die Mutti stieß ihr Ein-und-alles wiederholt an, sie solle mal gucken, wie niedlich doch, diese Süßen da, und überhaupt. Missmutige Antwort, und weiter ging’s mit dem Getippe.

Klar, wir Älteren hätten das nicht anders gemacht, nur eben gab es früher keine Smartphones. Noch nicht einmal das Wort „digital“, jedenfalls nicht im Sinne von digitaler Technik. Weder Computer gab es, noch Selfies noch Pokémon. Noch nicht einmal den Fernseher kannte man! Allerdings eben auch kein Fernsehverbot, falls zuhause ein Eintrag ins Schülertagebuch unterschrieben werden musste: „Heftführung liederlich“, „Brigitte (Jürgen, Monika…) schwatzt im Unterricht“. Ersatzweise gab es ein paar hinter die Ohren. Sehr konkret fühlbar. Überhaupt, das meiste, was das Leben so bot, war leibhaftiger Natur, war reale Welt. Schreiben erfolgte mit dem Stift auf Papier und nicht mit der Fingerkuppe auf einem Display, Rechnen ebenfalls auf Papier oder auch im Kopf. Ballspielen musste man selber, denn Fußballfernsehen gab’s eben nicht. Wen es nach Abwechslung gelüstete, konnte zusammen mit Freunden „Verstecken“ spielen oder „Räuber und Gendarm“. Sofern nicht gerade Holzhacken angesagt war, Briketts schichten, der Mutter bei der Wäsche helfen, Schuhe für die Familie putzen oder, wenn vorhanden, die Familienkutsche. Für Abenteuer sorgten verlassene Gemäuer oder ein selbstgebautes Baumhaus, und für das Training des Familienlebens war die Freundin da und deren Puppe. Alles sehr leibhaftig, jedenfalls viel gegenständlicher als heute.

Nullen und Einsen

Ganz anders die Welt der Gegenwart. Bestimmt wird sie digital, von einer Technik, die mit gerade mal zwei Ziffern arbeitet: Null und Eins. Und allein auf die Reihenfolge kommt es an, die der Nullen und Einsen, wenn es sich um eine Botschaft auf dem Display unseres Smartphones handelt oder um die Übertragung eines Krimis auf unseren Fernseher. Digital konservierte Musik wird auf Ohrstöpsel übertragen, die die so Verstöpselten von der Hörwelt ringsum abtrennen. Ihre Augen sind blicklos, gerade mal Lampenpfosten registrierend, um mit ihnen nicht zu kollidieren. Digitalisierte Roboter bauen Autos und Flugzeuge und Roboter bauen Roboter. Digitale Rechner steuern Drohnen, die fremdes Gelände ausspähen oder bombardieren, andere lassen im Schachspiel jedweden Gegner alt aussehen, selbst Weltmeister. Schon gibt es selbstfahrende Autos, fühlende Fußböden und denkende Kühlschränke, sogar Joghurts, die mitteilen, wie lange sie noch frisch sind. Der Fortschritt der digitalen Technik verläuft derart schnell und dramatisch, dass es selbst den klügsten Futuristen nicht möglich ist, vorherzusagen, was die Auswirkungen „von Allem auf Alles“ sind. Ganz besonders um die nächsten Generationen geht es. Wie werden sie den Wandel verkraften, wie kommen sie mit einer Welt zurecht, die zunehmend von der virtuellen Art ist? Ist Fortschritt in solchen Ausmaßen begrüßenswert? Denn Fortschritt an sich muss nicht immer gut sein. Auch der Krebs schreitet fort und zerstört, wird er nicht gebremst, am Ende den ganzen Körper. Doch wie den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft kontrollieren, wie ihn dosieren? Ein Zurück ins Gestern? Undenkbar!

Gleichwohl, in der Kindheit und Jugend der Älteren von uns ist auch nicht alles von der leibhaftigen Art gewesen. Längst waren Telefon und Radio erfunden, ebenso Fotografie und Kino, Schallplatte und Tonband. Sie ersetzten die leibhaftige Wirklichkeit, wenn auch auf Basis der Analogtechnik. Und diese Techniken waren ebenfalls hochwillkommen. Zum Beispiel Schallplatten. in Form unregelmäßiger Rillen eingepresst, erfreuten sie mit der Stimme Carusos oder von Conny Froboess. Oder die Filme von Hans Moser und Theo Lingen. Sie begeisterten Millionen und Abermillionen Menschen letztlich allein durch die Art, in der Silberkörner auf Zelluloidstreifen verteilt waren. Analog kodiert wurde auch das gesprochene Wort. In Form elektrischer Stromschwankungen war es über Drähte, die sich zwischen schier endlosen Reihen hölzerner Masten spannten, in die entferntesten Gegenden der Welt zu transportieren.

Wozu Bücher?

Ebenfalls kodiert, wenn auch in einer ganz anderen Weise, ist die Schrift. Seit Jahrtausenden gibt es sie, und immer handelt es sich um einzelne Zeichen, die je nach Reihenfolge ganz unterschiedliche Worte und Sätze ergeben. Schriftzeichenfolgen übermitteln Sachinformationen, sie können aber auch Erlebnisse der komplexesten Art bescheren, die denen der Wirklichkeit in nichts nachstehen. Eigentlich eine der wunderbarsten Sachen der Welt: Hochautomatisiert tasten die Augen die Buchstabenfolgen ab, das sogenannte Lesezentrum des Gehirns (in dem Winkel, wo Scheitel-, Schläfen- und Hinterhauptlappen aufeinandertreffen) erfährt daraus deren Sinn, und Leistung des Gehirns insgesamt ist es, je nach Text einen Gleitflug durch die Wolken zu erleben, einen Ehekrach mitzumachen, einen Motorradunfall oder eine Klettertour durch die Alpen. Oder es lässt einen Tränen lachen. Allein durch Lesen, allein durch das Verfolgen von Abfolgen von Buchstaben, mag das Gehirn eine entsetzliche Angst vor einem Mörder entwickeln. So entsetzlich, dass man die Angst leibhaftig verspürt: der Blutdruck steigt, der Atem stockt, die Pupillen verengen sich, auf der Stirn tritt kalter Schweiß zutage.

„Die Lesefähigkeit von Grundschülern sinkt!“, tönt es justament aus allen Zeitungen. Seit 2001 sei der Anteil der Viertklässler mit einer nur rudimentären Lesefähigkeit von 16,9 Prozent auf 18,9 Prozent gestiegen. Dafür mag es viele Ursachen geben. Eine davon ist ganz sicher die zunehmende Digitalisierung. Bilder, Videos, Gesprochenes, schlampiges Chatten und Smileys ersetzen fließendes Lesen und gewähltes Schreiben. Demnächst kommt vielleicht noch das Fühl- und Geruchskino hinzu, Sex-Roboter gibt es schon, und ein faktisch ereignisloses Leben wird digital enorm intensiviert. Es ersetzt die Wirklichkeit nahezu komplett. Alles ist höchst bequem, wozu dann noch anstrengen, zum Beispiel durch Bücherlesen? Und überhaupt. Ja, wozu überhaupt alles? Prof. Dr. Gerald Wolf

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