Die Vermessung der Psyche

Die Karte zeigt die Anzahl der Psychotherapeuten je 100.000 Einwohner auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte (Stand 2015). Je dunkler die Färbung, desto höher ist die Psychotherapeutendichte in der jeweiligen Region. Quelle: Bertelsmann Stiftung

In Deutschland sind jedes Jahr etwa 27,8 Prozent der erwachsenen Bevölkerung von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das entspricht rund 17,8 Millionen betroffene Personen“, schreibt die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in einem Bericht vom Januar 2019. Psychische Erkrankungen zählen nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bösartigen Neubildungen und muskuloskelettalen Erkrankungen zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust an gesunden Lebensjahren. Außerdem sollen Menschen mit psychischen Erkrankungen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung eine um zehn Jahre verringerte Lebenserwartung haben. Die Befunde klingen alarmierend.

Man nimmt an, dass psychische Störungen heute nicht häufiger auftreten als zu Zeiten vor der Existenz der Psychotherapie. „Men­schen mit psy­chi­schen Stö­run­gen fal­len heu­te schnel­ler durchs Ras­ter als frü­her, weil sie mit an­de­ren nicht so gut aus­kom­men. Frü­her ist der Schi­zo­phre­ne ein­fach mit auf den Acker ge­gan­gen und muss­te mit kei­nem re­den. Heu­te muss je­de Ver­käu­fe­rin ho­he so­zia­le Kom­pe­ten­zen ha­ben“, sagt Pro­fes­sor Mi­cha­el Lin­den, Psych­ia­ter und Psy­cho­lo­ge an der Ber­li­ner Cha­rité. Natürlich lässt sich diese Aussage nicht mehr nachprüfen. Genauso gut könnte man auch die Annahme aufstellen, dass Geradlinigkeit und relative Einfachheit über Lebenswege und Bedingungen sowie die Möglichkeiten, diese intellektuell zu begreifen, weniger geistige Dissonanzen hervorriefen als die heutige Kompelxität an Anforderungen, Spezialisierungen und Differenzierungen. Es ließe sich daraus quasi eine Problem-Explosion vermuten. Partnerwahl, Kinderbetreuung, schulische, berufliche, gesundheitliche und gesellschaftliche Maßstäbe bringen sicher allein wegen ihrer permanenten Diskussion Menschen häufiger in Zweifel und Stresszustände. Daraus ließe sich neben einer gesunkenen Hemmschwelle, psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen, außerdem erklären, warum eine wachsende Anzahl an Menschen überhaupt eine Einordnung ihrer psychischen Verarbeitungspotenziale einerseits bewerten lassen und anderseits Orientierungen erhalten möchte.

Nun arbeitet die medizinische und psychologische Psychotherapie bei schweren Störungen wie Depressionen oder gar Schizophrenie mit begleitender Medikation. Allein 2017 wurden den Krankenkassen 25 Millionen Packungen Antidepressiva in Rechnung gestellt. Selbst Therapien, bei denen keine Psychopharmaka eingesetzt werden, zeigen überwiegend positive Erfolge. Die Wirk­sam­keit von Ko­gni­ti­ver Ver­hal­tens­the­ra­pie wurde in Tau­sen­den Stu­di­en und Hun­der­ten Me­ta-Ana­ly­sen nach­ge­wie­sen. Der Erfolg der Behandlung wird in der Regel anhand von Fra­ge­bö­gen ge­mes­sen. Patienten werden zu den Sym­pto­men vor Be­ginn und nach En­de der The­ra­pie be­fragt. Laut diesen Erhebungen wirkt Psy­cho­the­ra­pie bei 60 bis 80 Pro­zent der Betroffenen. Je­dem fünf­ten Pa­ti­en­ten könnte allerdings über­haupt nicht geholfen werden.

Was bedeutet jedoch der Komplex psychischer Störung und ihrer Therapierbarkeit für die Gesellschaft? Warum enstehen erst so viele Irrungen und Wirrungen, die beispielsweise mit depressiven Begleiterscheinungen einhergehen? Müssen wir nicht auch einen Mangel an individueller Wissens- und Kompetenzvermittlung beklagen? Steigenden Diagnosen und mehr therapeutische Unterstützung sowie ein wachsende Zahl an Psyche-Spezialisten unterläuft die Entwicklung eben nicht. Im Gegenteil, möglich ist nämlich auch, dass sich mit einer systemischen Versorgung die Reizschwelle für Problemsichten weiter absenkt. Vereinzelung und Vernetzung könnten ebenso wie Katalysatoren die Stabilität des Seelenheils negativ beeinflussen. Je höher der Austausch über subjektiv wahrgenommene Stressfaktoren, je deutlicher wird sich die Vermutung zur Gewissheit wandeln. Wenn Kinder heute vielleicht rein entwicklungsbedingt Defizite in der Gruppe zeigen, soll ein Therapeut eingreifen und die betroffenen Schützlinge wieder auf Kurs bringen. Eltern legen damit offenbar häufiger die Verantwortung gegenüber ihrem Nachwuchs in die Hand anderer. Unter solchen Tendenzen werden sich wohl kaum wirksame Handlungsalternativen verbreiten. Aufgrund des Wissens über die starke Prägung im Kindesalter wäre hier sicher mehr Aufklärung in der elterlichen Erziehung nötig. Möglicherweise ist sogar eine Debatte darüber hilfreich, ob nicht sowohl elternpädagogische Konzepte als auch mehr lebenspraktische Erfahrungen und reflektierende Bewertungselemente im jugendlichen Alter vermitteln werden könnten.

Bisher folgt die Logik für steigende psychische Störungen vorrangig dem Erklärungsmuster, dass Anforderungen in Schule, Studium oder Arbeit ausschlaggebende Gründe für seelische Beeinträchtigungen erzeugen würden. Doch nehmen wir heute mit der Inflation der Bildschirme und der Explosion artifizieller Bilder immer länger Inszenierungen auf. Die Millenium-Generation ist gar unter der Selbstverständlichkeit einer permanent existenten künstlichen Welt aufgewachsen. Welche Wirkungen hat das auf die inneren, teils unbewussten Bewertungen im Hirn eines Menschen sowie auf deren Entwicklungen? Diesbezüglich funktioniert das Therapieren genauso wie das Wahrnehmen der Gegebenheiten. Die Schwierigkeiten und Beeinträchtigungen sind halt da, nun müsste man nur noch lernen, mit ihnen umzugehen oder sie irgendwie vermeiden. Von einer angemessenen Ursachenforschung und Überlagerung der vielfältigen Einflüsse hört man öffentlich wenig. Da das Bewusstein eines Menschen nicht allein aus seinen Hirnleistungen heraus erklärt werden kann, sondern dessen Entwicklung mit der Welt, die darauf einströmt zusammenhängt, kann Psychotherapie heute nur Arbeit an den Symptomen bleiben. Und die Vermessung des Einzelnen sagt überhaupt nichts über den Zustand vieler und deren gegenseitige Beeinflussung aus. Da muss in Zukunft mehr passieren, wenn wir nicht alle therapiert werden möchten. Thomas Wischnewski

Zahlen und Fakten zu Psychiatrie und Psychotherapie

• An der spezialisierten vertragsärztlichen Versorgung von Erwachsenen mit psychischen Erkrankungen nahmen 2017 in Deutschland 25.873 Psychotherapeuten und 5.877 spezialisierte Fachärzte teil. Von den Psychotherapeuten sind 6.121 ärztliche Psychotherapeuten und 19.752 Psychologische Psychotherapeuten

• In Deutschland waren 2017 insgesamt 44.310 Psychologische sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in verschiedenen Bereichen tätig. Davon haben 35.095 in ambulanten Einrichtungen und 7.052 in stationären oder teilstationären Einrichtungen gearbeitet. Darüber hinaus verfügen 2016 16.059 Fachärzte anderer Disziplinen über die Zusatzbezeichnung „Psychotherapie“ oder „Psychoanalyse“, von welchen 11.265 niedergelassen sind.

• Die Zahl der nicht ärztlichen Psychotherapeuten ist von 3.783 (2012) auf 5.102 im Jahre 2015 angewachsen.

• In einem Quartal nehmen etwa 1,1 Millionen gesetzlich versicherte Patienten psychotherapeutische Leistungen bei niedergelassenen Psychotherapeuten in Anspruch. Die häufigsten Behandlungsdiagnosen für ambulante Richtlinien-Psychotherapie sind mit 82 Prozent Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen sowie affektive Störungen.

• Die durchschnittlichen Kosten einer Psychotherapie betragen 3.725 Euro – bezogen auf eine Psychotherapie mit der durchschnittlichen Dauer von 46 Sitzungen und 20 Monaten.

• 25 Millionen Packungen mit Antidepressiva wurden im Jahr 2017 bei den Krankenkassen abgerechnet. Das sind sieben Mal so viel wie vor 25 Jahren.

• Laut einer Umfrage unter Vertragspsychotherapeuten hat sich die durchschnittliche Wartezeit auf einen Ersttermin beim Psychotherapeuten seit 2017 von 12,5 auf 5,7 Wochen verringert. Bis zum Beginn einer Richtlinientherapie vergehen nach dieser Befragung im Durchschnitt insgesamt 19,9 Wochen.

Zurück