Die Entdeckung einer neuen Welt

Jeder entdeckt die Welt auf seine Weise in der Zeit, in die man hineingeboren wird. Man stößt auf das, was ist, und die Tatsachen des Vorhandenen lässt alles Existierende für jeden kleinen Weltenentdecker zunächst wie eine Selbstverständlichkeit erscheinen. Mit welchem Rüstzeug schicken wir die Kinder ins Leben? Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sind wichtig? Welche Talente gilt es zu fördern und mit welchem Wissen statten wir die Heranwachsenden aus, damit sie das eigene Leben meistern sowie Aufgaben und Verantwortungen für die Gesellschaft übernehmen können? Solche Fragen stehen vor jeder Eltern- bzw. Erwachsenengeneration. Bei der Suche nach Antworten taucht man in ein Meer an Ratschlägen, Konzepten und Bildungsweisheiten. Jede gefundene Lösung wirft am Ende neue Fragen auf. Und unter den zahlreichen Debatten über Bildungsangebote zur Förderung individueller Möglichkeiten, Wege zu finden, die Kindern und Jugendlichen gerecht werden, mag man oft verzweifeln. Alles steht unter der Kritik des Individuums: Der Staat bildet angeblich nicht ausreichend. Einstige Werte haben sich offenbar aufgelöst. Jeder will nur das Beste für die eigenen Kinder. So taumelt das Gewissen heutiger Eltern in einem weltanschaulichen Wirrwarr und sucht nach fassbaren Zukunftsbotschaften für die Nachkommen. Wir müssen noch einmal auf die eigene Entwicklung zurückblicken und uns die Entdeckung der Welt vergegenwärtigen, damit wir verstehen, unter welcher Zerrissenheit heute Werte- und Fähigkeitsvermittlungen erfolgen.

Das Leben war für die vor 1990 Geborenen in der Tat ganz anders. Am Anfang stand die Entdeckung des eigenen Lebensumfeldes. Die Wohnung, die nähere Umgebung wurde mit den elterlichen Bezugspersonen erobert. Das Fernsehen mit seinen Geschichten, die Bücher mit ihren Märchen waren schon da und wurden wie eh und je kindliche Erfahrungswelt. Die ersten bewussten Ausflüge in die unmittelbare Heimatumgebung fanden vielleicht mit fünf oder sechs Lebensjahren statt. Kinder wuchsen unter zumeist realen Erlebniswelten auf. Das ist heute vielfach anders. Bildschirme mit illusionären Scheinwelten sind allgegenwärtig. Viele Knirpse sind mit ihren Eltern bei Urlaubsreisen schon in der weiten Welt unterwegs. Die Erfahrungen für einen intensiven Bezug zum heimatlichen Umfeld werden schon in frühen Lebensjahren durch Reiseausflüge durchbrochen. Das sei nicht kritisch bemerkt. Nur muss man den Aspekt benennen, wenn wir die eigene Sozialisation am Heute messen wollen. Die Reize, denen Kinder in der Jetztzeit ausgesetzt sind, haben sich vervielfacht. Natürlich ist das menschliche Hirn mit einer Aufnahmeplastizität ausgestattet, mit der es diese frühen Erfahrungen mühelos aufsammelt. Aber unweigerlich entwickeln sich unter den aktuellen Bedingungen Individuen mit anderen Deutungs- und Bewertungspotenzialen. Je mehr auf tradierte Orientierungen gepocht wird, umso größer die Diskrepanz für heutige Heranwachsende, die ihren Verstand nur an den vorherrschenden und erlebten Voraussetzungen reiben können, niemals aber an der Erfahrungswelt ihrer Eltern oder Großeltern.

Digitalisierung ist das Schlagwort der Gegenwart. Möglichst schnell und reichlich umfassend sollen technische Systeme bereitstehen, die vernetzte Angebote und deren Nutzung ermöglichen. Die Erfahrungen der Erwachsenengenerationen reichen nicht aus, um Kindern eine dauerhafte und beständige Wertvermittlung mit dieser Sphäre beizubringen, geschweige denn zukunftsfest überzuhelfen. Erstmals in der Menschheitsgeschichte wachsen Kinder mit technischen Bedingungen auf, für die ihre Eltern noch kein abschließendes Fazit abgeben können. Das ist in der Tat eine neue Menschheitserfahrung. Wer glaubt, darauf heute schon eine umfassende Erklärung abgeben zu können, betätigt sich als hellsehender Scharlatan. Allerdings existieren viele dieser Propheten, die heute schon genau wissen wollen, was dereinst in all den Bildschirmwelten wichtig sein wird. Zwei kleine, noch vor dem Jahr 2000 verbreitete Prognosen, können zeigen, wie hilflos diese Experten ihre Orakel ausdünsten. Als der Personalcomputer die Büros flutete und Ende der 1990er Jahre auch die Wohnstuben erobert hatte, war überall vom bald real existierenden, papierfreien Büro die Rede. Schauen Sie sich heute mal in ihrem Büro um – falls Sie in so einem arbeiten – und versuchen Sie zu fassen, wie viele Aktenordner Sie im Vergleich zum Ausklang des vergangenen Jahrhunderts eingespart haben. Eine andere wundersame Weissagung – und die ist schon lange in der Welt – schenkt uns die Gewissheit, dass technologischer Fortschritt zweifelsfrei in ein besseres Leben mündet. Verfolgt man die Hiobsbotschaften über den Lauf der Welt, müsste die Voraussage glatt als Kaffeesatzleserei abgestempelt werden.

Mittlerweile bastelt jeder seine Zukunftssicht selbst zusammen und versucht sich als Prophet am Gedeihen der eigenen Kinder. Eine Erfahrung, die aus den vergangenen 30 Jahren in der Tat hervorgegangen ist, betrifft die Geschwindigkeit beim Wechsel technischer Systeme. Darin wird die eigentliche Triebkraft des Digitalisierungsphänomens begreifbar: Um dem Anpassungsdruck von Softwareentwicklungen standzuhalten, muss jeder permanent seine Hardware anpassen – sprich: neu anschaffen. Nun versetzen wir uns in die Abhängigkeit vom mobilen Internet und seinen Geräten. Jede Generation, die heute das Licht der Welt erblickt, wird sich ein Leben ohne Anschluss an die vernetzte Welt nicht mehr vorstellen können. Es entsteht eine tiefe systemische Abhängigkeit. Und in der Folge müssen fortwährend neue Geräte angeschafft werden, um mit den technischen Standards Schritt halten zu können. Derzeit diskutiert Deutschland die flächendeckende Einführung des sogenannten G5-Standards im Mobilfunk. Es liegt auf der Hand, dass man dafür wiederum neue und sicher teurere Apparate benötigt. Wer nicht als altbacken gelten will, wird sich dem Trend nicht verschließen können. Wir können die individuelle Mobilität kaum wegdenken, wie sollen sich da erst folgende Generationen einer vernetzten Welt das Leben ohne Internet vorstellen? Insbesondere das Smartphone oder ähnliche Hilfsapparte sind derart eng mit der Persönlichkeit verwoben, dass Kommunikation und Interaktion, ja sogar Sozialverhalten damit verknüpft ist, dass ein Ausbrechen unweigerlich zu einer Art Identitätsverlust führt. Diesen Aspekt können Erwachsene, die eine Zeit vor dem Internet kennen, wenigstens noch begreifen. Aber wie wird sich das auf die Menschen auswirken, die nichts anderes kennen?

 

Reisen ist eine Selbstverständlichkeit. Mit den Möglichkeiten von heute kann man innerhalb von 72 Stunden an jedem Ort der Erde sein. Diese Erfahrung war vor 30 Jahren in ihrer Quantität nicht erlebbar, maximal für Menschen, die über ein eigenes Flugzeug verfügten. Kinder reisen heute selbstverständlich an jeden Ort der Welt mit. Auch das ist grundsätzlich keine Kritik, sondern impliziert nur die Frage, wie verwurzelt künftige Generationen mit ihrer Heimat bzw. mit ihrer unmittelbaren Umgebung des Aufwachsens sind? Diese Entwicklung soll mit dem Aufzeigen solcher Tatsachen nicht diskreditiert werden. Doch gibt dies Anhaltspunkte für bestehende Auseinandersetzungen oder noch entstehbares Konflikpotenzial. Wir wundern uns vielleicht über die Veränderung in unseren Innenstädten, über leere Geschäfte und mangelnde Lebendigkeit in einer City, aber wir schicken unsere Kinder selbst in die virtuelle Welt, so wie wir selbst darin agieren. Gemeinsam verändern wir die Realität, indem wir der Virtualität mehr Bedeutung schenken.

Kindern heute die Welt erklären zu wollen, ist erstmals ein ziemlich hilfloses Unterfangen. Wichtige Werte werden vorrangig über Bildschirme transportiert. Wen wundert es da, dass die Beziehungen zum unmittelbaren Umfeld leiden. Ich weiß, dass es Einwände gegen diese Argumente gibt und dass Beweise für Gegentrends aufgezeigt werden können. Doch Hand aufs Herz: diese Diskussion wird letztlich schon von einer Generation geführt, die keine Erfahrungen ohne die virtuelle Welt gemacht hat. Es geht hier eben nicht um die Verteufelung einer neu entstehenden Welt, sondern darum, herauszufinden, an welchen Erfahrungen und mit welchem Wissensstand wir etwas bewerten. Dereinst – mit dem Aussterben der sogenannten Analog-Menschheit – werden selbstredend andere Maßstäbe über die Vernetzungstechnologie gelten. Absehbar ist jedoch, dass sich ein künftiger Wandel noch zügiger vollziehen wird. Mitten in die bereits existente Verunsicherung kommen zusehends jede Menge politische Botschaften, ziehen nach rechts oder links und sollen junge Menschen positionieren. Darunter entsteht jedoch nichts anderes, als dass im Überschwang ihrer ideologischenZiele nur weitere Orientierungslosigkeit erschaffen wird.

Vor seiner unbekannten Zukunft steht jeder Mensch mit Beginn des Lebens. Das ist unveränderbar. Doch die Bedingungen des Aufwachsens, wovon wir Besitz ergreifen, was uns übergeholfen und angetragen wird – das hat in der Menge im Vergleich zu Vor- oder Nachkriegsgenerationen gewaltig zugenommen. Haben Sie schon einmal überschlagen, wie viel Spielzeug von der Geburt des Nachwuchses bis zum Verlassen der elterlichen Wohnung durch ein Kinderzimmer geschoben wird? Wahrscheinlich zählen das Mütter und Väter niemals. Im vergangenen Jahr gaben die Deutschen 3,1 Milliarden Euro für Spielzeug aus. Darin sind keine Ausgaben für Smartphones oder Computer enthalten. Im Jahr 2000 waren es 2,5 Milliarden Euro. Zwar ist die Geburtenrate aktuell wieder angestiegen. Doch ist das Niveau gegenüber den Zeiträumen vor 1990 immer noch geringer. Das heißt die gestiegenen Gesamtausgaben für Spielwaren verteilen sich auf weniger Kinderzimmer. Wie lange kann sich ein Kind überhaupt mit einer Sache beschäftigen? Wie viel Geduld und welche Konzentrationsfähigkeit kann unter ständig wechselnden Angeboten entwickelt werden?
Unter dem Anspruch, seinem Kind nur das Beste angedeihen zu lassen, verflüchten sich bei einigen Eltern möglicherweise die Relationen für angemessene Spielzeug- und Beschäftigungsangebote. Wird in Fällen eines Überangebotes an Spielsachen wirklich das Bedürfnis von Kindern befriedigt oder doch eher das Gewissen der Eltern beruhigt? Übrigens, wenn man heute mit seinen Kindern verreist, bieten Hotels und Clubanlagen in der Regel einen kostenlosen WLAN-Anschluss an. Auf den ersten Blick klingt das natürlich nach gutem und modernem Service. Allerdings verbinden Reiseanbieter damit auch ein Kalkül: Kinder posten nämlich gern die Urlaubsfotos. Und damit werden sie zu potenten Werbebotschaftern für die Tourismusunternehmen. Genau solche unmerklich angenommenen Verhaltensweisen sind es, die sich ins Leben einschleichen. Selten werden dann solche Selbstverständlichkeiten infrage gestellt.

Die Kindheit ist die schönste Zeit, so sagt man. Weiß dies aber selbst erst, wenn diese längst zur Vergangenheit gehört. Einstellungen und Wertorientierungen bilden sich in der Phase des Heranwachsens heraus. Maßgeblich werden sie von den Eltern vermittelt, natürlich auch durch die Schule und das unmittelbare soziale Umfeld. Wohin jedoch werden sich Werte entwickeln, wenn Sozialkontakte mehr und mehr über Bildschirme gepflegt werden. Natürlich bieten sogenannte Messengerdienste Vorteile für eine schnelle Kommunikation, das Internet Zugang zu ungeahnten Wissenswelten. Doch kann man noch Informationen finden, wenn man gar nicht weiß, wonach man suchen soll. Und welche Bedeutung hat die virtuelle Sphäre, wenn mit ihr die Wirklichkeit kaum verbunden wird? Solche Problemstellungen können heutige Erwachsene ihren Kindern nicht verlässlich beantworten.

Impulse für Lebensentwürfe, für die Berufswahl und bei der Interessenssetzung fallen unter dieser Entwicklung schwerer. In der Arbeitswelt werden die Folgen solcher Orientierungsschwierigkeiten bereits spürbar. An Fachkräften mangelt es insbesondere in Branchen, die mit handfester Arbeit zu tun haben. Indes wächst die Zahl der Abiturienten und Studenten. Die höhere Ausbildung soll die künftige Existenz sichern, doch niemand kann unter der Rasanz des Wandels angeben, ob eine Fähigkeit in zehn Jahren überhaupt noch gefragt ist. Es wird schon unterstellt, dass heutige Schulabgänger in ihren künftigen Erwerbsbiografien mehrere Berufswechsel mit unterschiedlichen Kompetenzen leisten müssten. Die Suche nach Antworten, wie die Kleinen angemessen groß werden können, wird wohl nicht leichter. Und unsicher bleibt, was wir glaubhaft vorleben und vermitteln könnten. Vielleicht ist die vielfache Orientierungslosigkeit über Zukunftsgestaltung ein möglicher Grund dafür, dass dem Nachwuchs mehr und mehr Angebote übergeholfen werden. Gleichzeitig kollidiert die Unsicherheit über die Zukunft mit dem Wunsch nach höchstmöglicher Fürsorge und Beschützung. Die Entdeckung der neuen Welt wird wohl für Kinder eher schwieriger als leichter und Eltern werden vielleicht zunehmend unter dieser Entwicklung zu leiden haben. Thomas Wischnewski

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