Chaos im Bioladen

EuGH Urteil: Bioromantik trifft auf Wirklichkeit

Nicht schon wieder das Gentechnikthema, werden einige Leser denken. Aber es hilft nichts. Zum Gen-Editierungs-Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) ist noch lange nicht alles Nötige gesagt. Dabei wird doch immerzu mehr Transparenz zu all den Fragen, die die Lebensmittelkonsumenten interessieren, angemahnt. Und kaum ein anderes Thema ist emotional so aufgeladen.

Für die zahlreichen Menschen in Deutschland ist die Vorstellung, gentechnisch veränderte (gv) Lebensmittel zu konsumieren, genauso ekelerregend, als würde man ihnen Katzen-, Hunde- oder gar Rattenfleisch servieren. Mehr noch: Sie sind davon überzeugt, dass es nicht nur eklig, sondern auch gefährlich sei, gv-Nahrungsmittel zu essen oder zu trinken. Dies ist den zahlreichen Nichtregierungsorganisationen (NGOs, eine Abkürzung aus dem Englischen) zu verdanken. Mit ihren unermüdlichen Kampagnen gegen „Gen-Food“ haben „Greenpeace“, BUND, NABU, „Food Watch“, „Save our Seeds“, das „Genethische Netzwerk“, der „Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft“ u.a.m. diese allgemeine Abneigung erzeugt.

Ach, wenn Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, doch nur wüssten, dass Sie sich seit vielen Jahren überwiegend mit „Gen-Food“ ernähren! Grund zur Aufregung bietet dieser Fakt nicht, sondern nur die Tatsache, dass man Sie für dumm verkauft hat und Ihnen nicht zutraut, dass Sie in der Lage wären, naturwissenschaftliche Fakten zu ertragen oder gar zu verstehen. In Kenntnis der verbreiteten Ahnungslosigkeit werben Lebensmitteldiscounter mit der verlogenen Aufschrift „ohne Gentechnik“, und sogenannte „Bioläden“ sowieso. Aber das jüngste EuGH-Urteil bringt das Kartenhaus aus Desorientierung zum Einsturz! Denn nun ist es höchstrichterlich festgestellt: Die meisten Lebensmittel, die Sie essen und trinken, sind als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) im Sinne der GVO-Richtlinie einzustufen. Wieso das? Um das zu erklären, muss man etwas ausholen.

Über die Züchtungsgeschichte

Mutationen sind Veränderungen im Erbgut, die bei allen Lebewesen ohne äußeren Anlass auftreten können, aber in viel größerem Umfang durch Strahlen verschiedener Art und durch bestimmte Chemikalien (genotoxische Agentien) ausgelöst werden. Die meisten Mutationen sind für das betroffene Lebewesen hinsichtlich der Fitness nachteilig. Aber manchmal führen Mutationen auch zu Eigenschaften, die Züchtern willkommen sind. Wenn Stoffwechselvorgänge gestört werden, kann es sein, dass sich Zucker, Stärke, Öle oder Aromastoffe anhäufen. Damit werden die Pflanzen nahrhafter und schmackhafter. Werden wachstumsregulierende Anlagen gestört, werden die Früchte unter Umständen größer. Brombeeren verlieren durch Mutationen ihre Stacheln und Pfirsiche ihren Pelz und werden zu Nektarinen. Wählen Züchter Mutanten mit gewünschten Eigenschaften aus und kreuzen sie mit anderen interessanten Pflanzen, kommen sie zu der Vielfalt von Hochleitungssorten, die heute auf unseren Speiseplänen stehen. Maispflanzen, die über zwei Meter hoch werden und dicke Maiskolben tragen, wurden aus einem mickrigen Gras mit nur millimeterdicken Fruchtständen gezüchtet. In der Tierzucht liefern der Peking-Palasthund und die Deutsche Dogge, die sich züchterisch aus dem Wolf ableiten, beredete Beispiele, was Züchtung zu leisten vermag, wenn sie Mutationen nutzt und willkommene Varianten selektiert und kreuzt. Als nützlichere Beispiele sind Kühe zu nennen, die als Lebensleis-tung 20 Tonnen Milch geben und Hühner, die unentwegt Eier legen! Hinsichtlich der Mutationen beschränkten sich Züchter nicht nur auf die Nutzung von Zufällen. Die deutsche Genetikerin Emmy Stein hat als erste herausgefunden, dass ionisierende Strahlen auf Organismen eine mutationsauslösende Wirkung haben. Über ihre Beobachtung der Wirkung von „Radiumstrahlen (=Gammastrahlen) auf Löwenmäulchen“ hat sie 1921 auf einer Tagung berichtet.

Seit den 30iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben Züchter die mutagene Wirkung von Strahlen genutzt, aber so richtig intensiv ging es mit der artifiziellen Mutationsauslösung erst um 1964 los. Da haben sich die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) und die Welternährungsorganisation (FAO) zusammengeschlossen, um die Sektion „Nukleartechnik in Ernährung und Landwirtschaft“ zu gründen. Seitdem lässt man Gamma- und Röntgenstrahlen auf Pflanzen mit einer Intensität einwirken, die einen Menschen schon nach drei Minuten dem Tode weihen würde. Hinzu kommt der Beschuss mit Neutronen. Neutronenstrahlen setzen auch Ärzte ein, um Krebsgeschwüre „auszubrennen“. Da das alles sehr aufwändig war, suchte und fand man Chemikalien, die eine vergleichbare Wirkung entfalten. Ethylmethansulfonat (EMS) oder Nitrosoguanidin sind solche genotoxischen „Radiomimetika“, die so heißen, weil sie Strahlen nachahmen und übrigens auch Krebs erzeugen. Dreißig- bis fünfzigtausend Mutationen lösen solche Behandlungen im Genom einer Pflanze aus und die sind völlig unberechenbar und nicht einmal im Nachhinein analysierbar. Weil strahlen- und giftinduzierte Mutationen auch in der Natur auftreten, stufte die Politik mit ihrem Gentechnikgesetz die artifizielle Mutationsauslösung nicht als Gentechnik ein. Aber natürlicherweise kommen nur 10 bis 15 Mutationen pro Generation vor und nicht 30.000 bis 50.000. Wir als Wissenschaftler waren schon immer der Meinung, dass solche Eingriffe ins Genom der Pflanzen Gentechnik sind, wenn auch in einer sehr primitiven Art. Das wurde bisher ignoriert.

Seit 1978 gibt es eine intelligente Gentechnik. Deren Wiege steht in Köln. Hiermit überträgt man Gene artübergreifend, also etwa von einer Pflanze der einen Art auf eine andere oder von Bakterien auf Pflanzen und Tiere. Damit ertüchtigt man Pflanzen, salz- und trockenresistent zu sein, sich gegen Insekten oder gegen Schadpilze, Bakterien und Viren zu wehren. In anderen Fällen werden die Pflanzen zu Organismen, die Vitamine produzieren oder neuartige Produkte synthetisieren, wie Medikamente, Rohstoffe für die Industrie und Medizin (biologisch abbaubare Plaste, Spinnenseide für die Chirurgie u. a. m.). Die Erschaffung und der Anbau solcher Pflanzen sind in der ganzen Welt auf dem Vormarsch, aber in Europa ist schon die Forschung dazu überreguliert und der Anbau verboten. Nur der Mais MON 810 ist noch in wenigen EU-Ländern erlaubt.

Vor Kurzem haben die in Deutschland arbeitende Emmanuelle Charpentier und die Kalifornierin Jennifer Doudna eine Methode entwickelt, mit der man Mutationen ganz einfach und vor allem gezielt induzieren kann. Man nennt es Gen-Editierung. Pflanzen, die so entstehen, lassen sich von natürlich entstandenen nicht unterscheiden, die Mutationen sind nur auf das Ziel begrenzt, gut analysierbar und in ihrer Wirkung berechenbar. Deshalb haben Wissenschaftler und Züchter gefordert, diese Produkte den Strahlenmutanten rechtlich gleichzustellen. Denn diese werden ja, obwohl sie in der Wirkung viel komplizierter und vor allem unberechenbar sind, auch nicht vom Gentechnikrecht reguliert. Die Zulassung von neuen Sorten nach dem Gentechnikgesetz ist so teuer, dass kleine und mittlere Saatgutzüchter die Kosten nicht aufbringen können. Da wäre es nützlich, die neuen Produkte der Geneditierung nicht nach dem Gentechnikrecht zu regulieren. Darüber hatte der EuGH zu entscheiden.

„Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.“ Diese Redewendung will sagen, dass es unberechenbar ist, wie ein gerichtliches Urteil ausfällt. In diesem Falle muss wohl auch der Teufel seine Hand im Spiel gehabt haben. Jedenfalls ist das Urteil, gelinde gesagt, sehr erstaunlich ausgefallen. Danach sind Organismen, die durch Geneditierung erzeugt worden sind, grundsätzlich als GVO einzustufen und den strengen Zulassungsbestimmungen des Gentechnikgesetzes zu unterwerfen. Damit können nur noch finanzstarke Großkonzerne moderne Pflanzenzucht ausüben und kleine und mittlere Saatgutbetriebe, wie wir sie in Sachsen-Anhalt haben, verschwinden mittelfristig vom Markt. Der EuGH hat entschieden, dass Konzerne Vorfahrt haben sollen! Die Monopolisierung einer lebenswichtigen Branche ist durch das Urteil besiegelt. Pflanzenzucht verlagert sich nach Amerika, Asien und Afrika. Das Gericht hat sich über die Gutachten aus der Wissenschaft hinweggesetzt und ist den Empfehlungen der überwiegend gläubigen NGO-Vorstellungen gefolgt. Die Produkte, die durch Gentechnik der konventionellen Art und durch Gen-Editierung entstehen, werden dann nach Europa importiert. Gerade eben haben Europa und die USA ihren Handelsstreit beigelegt, indem die EU Donald Trump zugesagt hat, große Mengen gv-Soja zu importieren.

Gentechnikfreiheit am Ende

Aber auch oben genannte NGOs sowie linke Politiker können trotz ihrer Triumphrufe mit dem Richterspruch eigentlich nicht zufrieden sein: Der EuGH stufte Pflanzen aus der traditionellen Mutationszüchtung als GVOs ein. Durch Strahlen und genotoxische Chemikalien induzierte Mutanten sind nichts anderes als auf unkontrollierte Weise genveränderte Pflanzen. Diese Art der Züchtung brachte bislang weltweit über 2.300 Pflanzensorten hervor, die unsere Supermärkte überfluten, aber auch Bioläden und Öko-Hofläden! Die gesamte Palette unserer pflanzlichen Nahrungslieferanten ist betroffen: Nahezu sämtliche Getreidearten, also Weizen, Gerste, Hafer, Reis und Mais, darüber hinaus Hülsenfrüchte, Soja, Raps, Gemüse sowie Zuckerrüben, Kartoffeln, Erdnüsse, Bohnen, Tomaten und Obst wie Äpfel, Birnen, Aprikosen, Kirschen, Pfirsiche, Zitronen, Orangen, Papayas, Kiwis, Grapefruits und Oliven. Die Produkte aus artifizieller Mutationsauslösung der traditionellen Art sind laut Urteil GVOs, müssen aber erstaunlicherweise nicht als solche gekennzeichnet werden. Mehr als die Hälfte der angebauten Gerste ist in diesem Sinne gentechnisch verändert. Allein in Deutschland wurden mehr als 44 Gerstensorten mit Hilfe von unkontrollierter Mutagenese erzeugt. Hartweizen, der Rohstoff für Nudeln und nudelartige Speisen, ist komplett betroffen. Nach dem Richterspruch ist es amtlich: Kein Gerstenbier, keine Nudel und keine italienische Pasta gibt es ohne gentechnisch produzierte Grundstoffe. Eine wichtige Rolle spielt die radioaktiv beeinflusste Züchtung insbesondere bei Obstbäumen, da diese durch die Art der Vermehrung (vegetativ und nicht über Samen) nicht gekreuzt werden können.

Eigentlich müssten NGOs, die ihnen nahestehenden Parteien sowie Lebensmittel- und Handelsverbände nun heftig diskutieren und die Zeitungen sollten von Artikeln zu diesem Thema überquellen, denn plötzlich ist höchstrichterlich festgestellt, dass fast alles Pflanzliche, was wir anbauen und essen, gentechnisch hergestellt ist. Aber es herrscht Grabesstille. Ist es Schockstarre, Ignoranz oder gar die Devise „Wenn man nicht drüber spricht und schreibt, merkt es keiner“? Letzteres trifft offenbar zu. In Berlin lief am 6. und 7. September eine Tagung des „Netzwerkes Gentechnikfreier Regionen“. Das müsste eigentlich eine Auflösungsveranstaltung sein, denn solche Regionen kann es laut Richterspruch gar nicht mehr geben. Aber ein Blick in den Tagungsplan zeigt, dass man so tut, als wäre nichts gewesen. Rechtlich gibt es nun jede Menge Handlungsbedarf. Die Richtlinie für Produkte, die mit dem Biosiegel gezeichnet sind, verbietet GVO. Wer räumt die Bioläden aus? Eigentlich müssten Organisationen wie „Foodwatch – die Essenretter“ unermüdlich twittern und aufklären. Aber sie schweigen und betätigen sich damit eher als Verschleierer. Wie wir es mit dem „Schwarzen Kanal“ von Karl-Eduard von Schnitzler in Erinnerung haben, der weiland im DDR-Fernsehen vorgab, die Wahrheit gepachtet zu haben, klaffen Anspruch und Wirklichkeit meilenweit auseinander. Wie auch immer. Die NGOs haben einen gewaltigen Pyrrhussieg errungen. Prost Mahlzeit! Stoßen wir auf deren Erfolg an und zwar mit Gentech-Bier! Womit denn sonst? Prof. Dr. Reinhard Szibor

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