Aprikosenkerne gegen Krebs?

Wo die Naturheilkunde eine rote Linie überschreitet

Aprikosenkerne werden als Mittel zur Krebsprophylaxe und als Alternativmedizin zur Chemotherapie einer Krebserkrankung gehandelt. Wissenschaftliche Belege für eine solche Wirkung der Kerne gibt es nicht. Stattdessen können Aprikosenkerne die Verursacher einer Vergiftung sein.

Es war Ende April 1945. Die Rote Armee stand östlich vor einer Kleinstadt im vorpommerschen Tiefland. Dort, in Demmin, hatte die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) bei der Reichstagswahl (März 1933) mit rund 54 % der Stimmen ein überdurchschnittlich-gutes Wahlergebnis erzielt. Zwölf Jahre danach waren es die örtlichen Nazifunktionäre, die mit der geschürten Angst vor der Roten Armee eine selbstzerstörende Panikstimmung unter der Bevölkerung entfacht hatten. In den nächsten Tagen beging jeder Zehnte der 15.000 Einwohner Suizid, zumeist durch Gift. Mit demselben Gift entzogen sich Goebbels, Göring und Himmler der Bestrafung ihrer Verbrechen. Auch bei dem kollektiven Suizid in der Sekte von Jonestown 1978 („Sie suchten das Paradies und starben in der Hölle“) wurde das Gift vermischt mit süßer Limonade den Sektenmitgliedern in Pappbechern gereicht. Es wurden fast Tausend Tote gezählt. Dem Gift begegnet man auch häufig in Krimis, besonders in denen von Agatha Christie. Friedrich Wolf, Kommunist, Arzt, Schriftsteller und Stückeschreiber hat 1929 ein oft gespieltes Schauspiel geschrieben, in dem das Gift bei einer Selbstabtreibung eingesetzt wurde. Auch als Umweltgift kam es wiederholt in die Schlagzeilen. Bis vor wenigen Jahren wurde es nämlich vielerorts im Bergbau zum Herauslösen von Gold und Silber aus zermahlenen Gesteinen eingesetzt. Die Restlauge wurde aufgestaut und gelangte bei Dammbrüchen, wie 2000 in Rumänien und 2011 in der Türkei geschehen, in die Umwelt.

Das Gift ist Zyankali, das berühmte Salz der Blausäure. Die Säure hat ihren Namen von dem Preußischblau, einem Farbpigment, das beim Erhitzen  Blausäuregas freisetzt. Zyankali ist bei Weitem kein Supergift, denn die tödliche Dosis für einen Erwachsenen ist mit ca. 140 mg ziemlich hoch. Auch verrät es sich leicht durch einen Bittermandel-Geruch und den leuchtend roten Leichenflecken der Vergifteten. Doch, durch die Schnelligkeit seiner tödlichen Wirkung, nimmt es unter den Giften eine Sonderstellung ein. Wenn es in den Körper gelangt, schaltet es sofort die Kraftwerke in den Zellen (Mitochondrien) ab, und die Zellen sterben durch Energiemangel. Das Anion der Blausäure (Zyanid) hat nämlich eine hohe Affinität zu den an der Zellatmung beteiligten Eisenionen. Kurioser Weise waren es die Eier von Seeigeln, die geholfen haben den Tötungsmechanismus zu enträtseln.

Blausäure und Zyankali sind keine teuflischen Erfindungen der Chemiker des 20. Jahrhunderts. Blausäure war vor mehr als 3,5 Milliarden Jahren an der Entstehung des Lebens auf der Erde beteiligt. Als Gasmolekül war es Bestandteil der Uratmosphäre, das unter dem Einfluss von Blitzen mit anderen Gasmolekülen zu Größeren reagierte, die dann mit dem Regen ins Meer gespült wurden. Irgendwann entstand dann auch aus einer Suppe von Molekülen die Ururur-Form des Moleküls, welches viel später zur Herberge unserer Gene wurde – der Desoxyribonukleinsäure (DNA). Die Blausäure ist aber auch ein Baustein vieler Kohlenhydrate, wie dem Amygdalin, einem weit verbreiteten pflanzlichen Inhaltsstoff. Dort ist das Zyanid fest mit Kohlenstoffatomen verknüpft und in dieser Form für die Pflanze ungiftig. Mit dem blausäurehaltigen Amygdalin oder seinen Verwandten schützen sich Pflanzen vor dem Gefressenwerden. In tropischen Ländern sind die Wurzelknollen der Maniokpflanze eine wichtige Stärkequelle für die dort lebenden Menschen. Weil aber die Knollen auch viel gebundene Blausäure enthalten, muss die Rohstärke vor der Verarbeitung zu Lebensmitteln entgiftet werden. Bei uns sind die Bittermandeln und die Aprikosen ergiebige Quellen für das Amygdalin.

Als Katia Ebstein 1970 auf dem Eurovision Song Contest in Amsterdam mit erotisch-fibrierender Stimme sang, „Wunder gibt es immer wieder“, wurde sie mit diesem Ohr(en)wurm der dritte Sieger. Für ein solches Wunder sollen nun die Aprikosenkerne herhalten. Denen sagen nämlich Vertreter der Alternativmedizin eine Wunderwirkung bei der Heilung von Krebs nach. Damit auch jeder von dieser wundersamen Heilwirkung der Aprikosenkerne überzeugt ist, wurde das Aprikosenkern-Amygdalin mit dem Phantasienamen „Vitamin B17“ zusätzlich aufgewertet. Eine frühere Hypothese behauptet sogar, dass Krebs durch einen Mangel an Vitamin B17 entsteht. Darauf aufbauend und um von den Aprikosenkernen unabhängig zu sein, erschuf die Pharmaindustrie in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts synthetische Varianten vom Amygdalin – die Laetrile. Mit diesen wurde dann auch der Weg für den intravenösen Einsatz gebahnt. Aber eine Heilwirkung der Aprikosenkerne, ihrer Extrakte oder den künstlichen Amygdalinen konnte mit wissenschaftlichen Studien nie belegt werden. Stattdessen warnt die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA seit Jahrzehnten vor diesen „Krebsmitteln“. Ungeachtet dessen, wird auch heute noch für Aprikosenkerne zum Zwecke der Krebsprophylaxe und Krebsheilung geworben.

„Der König aller Krankheiten“, das ist der Titel eines Bestsellers über die Geschichte der Chemotherapie des Krebses. Darin wird über die Erfolge und Irrwege der nun fast 100-jährigen Suche nach Krebs abtötenden Stoffen berichtet. Wenn man das Buch gelesen hat, versteht man, warum es kein Allheilmittel gegen den Krebs geben kann, denn dieser wird durch falsch funktionierende Eiweißmoleküle im Stoffwechsel der Zelle ausgelöst. Diese Eiweißmoleküle können gebildet werden, wenn Radioaktivität, Chemikalien oder Viren auf Gene einwirken, denn diese enthalten ja die Baupläne für die Eiweiße. Falsch funktionierende Eiweißmoleküle können aber auch das Ergebnis von „Pfusch“ und einer „mangelhaften Gütekontrolle“ bei der Reproduktion der Zelle sein. Davon abgesehen unterscheiden sich Tumore voneinander, durch ihre individuelle Lebensweise im menschlichen Körper. Das ist auch der Grund dafür, weshalb die Chemotherapie, die Strahlentherapie und die Chirurgie oder deren Kombination von der Schulmedizin zur Krebsbehandlung eingesetzt werden müssen. Wegen der Verschiedenartigkeit der Krebsarten müssen aber auch unterschiedliche Zytostatika bei der Chemotherapie angewendet werden.

Angesichts dieser Komplexität im Krebsgeschehen und der Tatsache, dass Zyanid gesunde Körperzellen und Krebszellen tötet, kann es nur verwundern, dass Vertreter der Naturheilkunde-Szene darauf schwören, den Krebserkrankungen generell mit Aprikosenkernen zu heilen. Als Begründung wird von ihnen angeführt, dass nur in Tumorzellen ein Enzym (β-Glucosidase) vorhanden ist, das Amygdalin in Blausäure und Traubenzucker (Glucose) aufspaltet. Wegen des zusätzlich gebildeten Traubenzuckers sollen die Krebszellen besonders „hungrig“ auf das Amygdalin sein. Diese simple Erklärung passt aber nicht zu der Tatsache, dass dieses Enzym in den gesunden Körperzellen und den Tumorzellen nicht gefunden wurde. Einen Beleg für die Aufnahme von Amygdalin aus dem Darm in den Körper gibt es auch nicht. Im Gegensatz zu den Körperzellen enthält die Darmflora Enzyme, die aus dem Amygdalin die todbringende Blausäure freisetzen können. Das erklärt, warum es bei Konsumenten von Aprikosenkernen zu Blausäure-Vergiftungen kommen kann. Wegen dieser Vergiftungsgefahr hat das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine deutliche Warnung vor den Risiken eines extensiven Verzehrs von Aprikosenkernen oder deren Extrakten ausgesprochen.

Bei der Diagnose Krebs ist es nur natürlich, dass jeder Strohhalm zu einem Hoffnungsschimmer wird, was auch für die Alternativmedizin gilt. Ein aktuelles Beispiel für die Folgen des blinden Vertrauens, auch auf die Aprikosenkerne, ist der Fall von Susanne Reichardt (youtube 22.08.2015). Sie ertastete 2010 einen kirschkerngroßen Knoten in der Brust. Ihr heilpraktizierender Mann überredete sie zu den homöopathischen Behandlungen. Selbst nachdem Schmerzen in der Brust auftraten, Ärzte dringend zu einer Chemotherapie rieten, verzehrte sie auf Empfehlung ihres Mannes täglich Aprikosenkerne. Auch die Kerne konnten den Krebs nicht stoppen. Der Kommentar ihres Mannes: „Sie hat diese nicht mit ausreichender Liebe zu sich genommen“. Genau das ist die generelle Verteidigungsstrategie dubioser Heiler. Ein Misserfolg bei der alternativen Therapie wird dem Patienten angelastet. Bei Susanne Reichardt hatte der Tumor inzwischen die Brustwand durchwachsen und das Herz und die Lunge beschädigt. Erst jetzt entschloss sie sich zur Chemotherapie und diese bewirkte noch in diesem nicht mehr zu heilenden Zustand der Krebserkrankung ein Schrumpfen des Tumors.  

Vielleicht gibt es Leser, die seit Jahren Konsumenten von Aprikosenkernen  sind und noch nie danach unter irgendeiner Übelkeit gelitten haben. In der Tat scheint es Unterschiede in der Verträglichkeit der Aprikosenkerne zugeben, was man vielleicht mit individuellen Unterschieden in der Darmflora und der körpereigenen Entgiftung der Blausäure erklären kann. Tatsache ist aber, dass  Aprikosenkerne den Krebs nicht bremsen. Im Gegenteil, ein Festhalten an den Aprikosenkernen verzögert nur den Einsatz wirksamer Werkzeuge der wissenschaftlichen Medizin gegen den Krebs. Mit dem diesjährigen Nobelpreis für Medizin werden Bemühungen geehrt, die es bei bestimmten Tumoren (schwarzer Hautkrebs, Lungenmetastasen) ermöglicht haben, die durch den Krebs „gefesselte“ körpereigene Immunabwehr zu reaktivieren. Aber auch bei dieser neuen, vielversprechenden Strategie müssen je nach Krebsart unterschiedliche „Entfesselungsmedikamente“ eingesetzt werden. Prof. Dr. Peter Schönfeld

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