Wanderungen

Ein fast poetisches Buch zu einem schwierigen Thema: 10 Gespräche zu 5.000 Jahre Einwanderung

Gute Nachrichten aus dem Osten. Da kommen 750 Ausländer in einen Ort von 1700 Einwohnern und es gibt keinen Kulturkampf. Ja, Spannungen gibt es, aber Alltagsspannungen. Und so etwas gibt es, aber wenig Medien, für die das ein Anstoß wäre zu berichten. Der Magdeburger Autor Ludwig Schumann machte sich auf den Weg. Er führte ihn nach Vockerode, in das ungeliebte Kind des „Gartenreichs“.
Erinnern Sie sich noch des Gewächshaus-Skeletts im Skulpturenpark unterhalb des Klosters Unserer Lieben Frauen? Die „Prozess Skulptur Gewächshaus“ der Künstler Johanna Bartl, Wieland Krause und Olaf Wegewitz entstand aus deren Begegnung mit den Überresten der einst größten Gewächshausanlage der DDR in Vockerode, die mit dem Abschalten des dortigen Kraftwerkes ebenfalls geschlossen werden musste. Die Idee in Magdeburg: Auf der gut gepflegten Rasenfläche sollte in der Umgrenzung des Gewächshauses in urbaner Umgebung ein abgegrenztes Stück Wildnis entstehen, zum Verweilen, zum Entdecken, zum Staunen. Mit der Begrenzung durch das Gewächshaus nahmen die Künstler ein Stück Natur in Obhut. Das empfand der Stadtrat, zuvörderst der Oberbürgermeister, als Provokation. So war es auch gedacht. Dummerweise machte die Natur nicht, was anfangs alle dachten: Sie wuchs nicht wild, sondern eher ganz bedächtig. Es dauerte Jahre, bis sich die ersten Bäumchen ansiedelten. Das Innenleben, so auch hier ein Plan, sollte über die Skulptur hinauswachsen. Ein Baum wird nun mal höher als die Skulptur. Dem Stadtrat ging das Konzept nicht auf. Hätte er mal das Gespräch gesucht (die Künstler haben es), hätte er den Grund erfahren können. Denn das Experiment gelang, wenn auch anders als geplant: Dass sich das Wachstum dergestalt verzögerte, hat mit der Beschaffenheit des Untergrunds zu tun. Es sind die Trümmer aus der Bombennacht des Zweiten Weltkriegs, die hier unter ein wenig Mutterboden verschüttet liegen und so das Wachstum verzögern. Das heißt, nicht das Experiment gelang, sondern die Deutung war falsch: Zunächst erzählte die Natur etwas über die Geschichte der Stadt. Aber wie will man einen Politiker, dessen Interessenwelt über die Ansicht eines Fußballs nicht hinausgeht, Kunst erklären? Auf Geheiß des Oberbürgermeisters wurde das Kunstprojekt unterbrochen und abgebaut. Zu diesem Zweck ließ sich die Stadt das Kunstwerk vom Land sogar schenken. Nicht weil sie es achtete, sondern um die Macht zu haben, es abbauen zu können. Ein Kunstwerk, dass dem Kunstverständnis der Stadt um Jahrzehnte voraus war. „Das Ergebnis entspricht dem Kunstverständnis einer Partei, die ihre Orientierung in den letzten zwei Jahrzehnten gründlich verloren hat“, kommentierte Schumann den Abbau.
Wen die Geschichte interessiert, der findet jede Menge filmisches, fotografisches, geschriebenes und gemaltes Material im Container „Prozess Skulptur Gewächshaus“ im Kloster Unser Lieben Frauen. Seit kurzem gehört zu den Exponaten auch das Buch „Wanderungen“ des Autors Ludwig Schumann, der in einem von Johanna Bartl initiierten Projekt gemeinsam mit dem Fotografen Hans-Wulf Kunze eine künstlerische Felduntersuchung machen wollte.
„Das erste Thema, die in Vockerode verloren gegangene Arbeit – immerhin 1600 Arbeitsplätze innerhalb kürzester Zeit in einem Ort, der heute noch 1700 Einwohner zählt – verwarf ich zunächst unter dem Eindruck zweier anderer Meldungen: Vockerode hatte aufgrund des Leerstandes nach der Schließung des industriellen Standortes 2015 750 Asylbewerber übergeholfen bekommen, ohne dass das mit den Ortsräten abgesprochen worden wäre. Damals stieß ich auch darauf, dass Vockerode eine flämische, keine deutsche Gründung war. Beide Informationen verdichteten sich für mich zu dem gesuchten Thema.“
Interessant war, dass es zwar im Ort zu Spannungen kam, aber nicht zu rassistischen Ausfällen. „Es waren eher alltagsbegründete Spannungen. Man stelle sich nur vor: Plötzlich gibt es einhalb mal soviel Einwohner, aber weiterhin nur den Schulbus. Die neuen Einwohner müssen aber zum Einkaufen dorthin fahren, wo es Geschäfte gibt. Da ist der Krach vorprogrammiert. Aber wir vom Runden Tisch für Ausländerfragen waren eben total überrascht, dass natürlich die Probleme auf den Tisch kamen, aber immer mit der Frage hinterher. Wie lösen wir das Problem?“ Schumann fragte in seinem Buch den Autor Dr. Ernst Paul Dörfler, den Historiker Prof. Dr. Mathias Tullner, Uwe Quilitzsch  von der Kulturstiftung DessauWörlitz, Michael Marquardt von der Auslandsgesellschaft, aber auch Vockeroder Einwohner. Es wurde ein anderes Buch, als man vielleicht erwartet hätte. Gott sei Dank. „Übrigens, das Projekt ist noch nicht zu Ende. Es wurde zwei Jahre verlängert. Diesmal geht es um das Selbstverständnis der Vockeroder, 25 Jahre nach dem Zusammenbruch des industriellen Traums.“

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