Vom Wert der Wege

Wert mag ein imaginäres Produkt unseres Geistes sein. Doch ihm haften Lebenszeit und absolvierte Wege an. Ein Plädoyer für mehr reale Entdeckungslust im Umfeld.
Das Leben ist schnell geworden. In manchen Dingen geradezu rasant. In Bruchteilen von Sekunden reisen Datenpakete um den Erdball auf dem Weg durch Datenleitungen und Funkstrecken in der Atmosphäre. Das Internet und seine Möglichkeiten fasziniert. Es erweckt den Anschein, sofort alles zu erfahren, ohne Grenzen zu kommunizieren und vor allem zu jeder Zeit unbegrenzt einkaufen zu können. Streitstoff dieser Entwicklung ist offensichtlich die menschliche Natur der Ungeduld. Quasi mühelos lassen sich Begehrlichkeiten erfüllen. Es ist praktisch vom Sofa nach getaner Arbeit oder gar während dieser, schnell ein paar Bestellungen aufzugeben, Preise in verschiedenen Internetshops zu vergleichen, Beschreibungen und technische Angaben zu vergleichen sowie Bewertungen oder Erfahrungsberichte über Produkte zu lesen. Doch die Praktikabilität und die Vorstellung, Zeit und Aufwand gespart zu haben, besitzen eine Kehrseite. Sie setzen nicht nur den Trend zu Verhaltensänderungen, sondern entfalten ihre Wirkung in der Realität.
Nun sind die Auswirkungen auf Einkaufskultur und den stationären Handel schon lange bekannt und die Folgen werden in vielen Städten mit leeren Schaufenstern in Ladenzeilen, verlassenen Geschäften und sinkender Angebotsvielfalt bereits sichtbar. Man müsste glauben, so ein Internetriese wie Amazon erdrückt den stationären Einzelhandel. In den virtuellen Regalen von Amazon lagern mittlerweile fast 229 Millionen Produkte, die nach einzelnen Kategorien geordnet sind. Dazu kommen nochmal mehr als 50 Millionen kategorielose Artikel. Aber natürlich ist es nicht der Internetanbieter selbst, sondern im Grunde unser menschliche Hang, mit möglichst wenig Aufwand zum Ziel zu kommen.
In Deutschland kaufen fast 44 Millionen Kunden regelmäßig bei Amazon ein, das entspricht fast drei Viertel der 60 Millionen deutschen Internet-Nutzer. Gemessen an den 51,6 Millionen E-Commerce-Nutzern heißt das: Mehr als acht von zehn deutschen Internetshoppern bestellen bei Amazon. Die Menge und die Vermeidung aufwändiger Wege sind es, die eine einstige Lebendigkeit in Städten den Garaus machen. Die menschliche Grundnatur zur Vermeidung lästiger Aufwendungen lässt sich nun einmal nicht wegdozieren. Jeder hat zur Rechtfertigung seines Verhaltens eine schlüssige Erklärung parat. Zeitmangel, Preis, Angebotsvielfalt – egal. Jeder Grund ist für sich genommen vernünftig. Die destruktive Auswirkung auf die Realität ergibt sich erst aus der millionenfachen Aneinanderreihung aller individuellen Motive. Auch das ist eine bereits bekannte Tatsache.

Unbeirrt wollen wir Lebenszeit
und Wege einsparen
Worüber wahrscheinlich weniger nachgedacht wird, ist die schleichende Auflösung von Werten, die mit dem Massenverhalten zur beschleunigten Wunscherfüllung einhergeht. Eigentlich ist jedem bewusst, dass Dingen ein besonderer Wert anhaftet, für deren Erhalten man sich im Leben wirklich mühen musste. Der lange aufwendige und schwierige Weg innerhalb einer Partnerschaft, die unzähligen Momente des Miteinanders, der gemeinsamen Lösungen und des Erlebens schenkt zwei Menschen den Reichtum ihrer Verbindung. Diese emotionale Werterzeugung lässt sich aber auch auf die dingliche Welt übertragen. Je länger man etwas sucht, je gründlicher man im Erwählen vorgeht und je fester am Ende der Entschluss ist, etwas sein Eigen nennen zu wollen, umso wertvoller erscheint die Sache selbst.
Es ist also auch der Aufwand an Lebenszeit, den man einem Produkt widmet, nicht nur der Preis, der daran klebt, der in das persönliche Wertempfinden einfließt. Doch unbeirrt geben wir diesen Einsatz von Lebenszeit auf, verringern die sinnliche Erfahrung beim Wählen. Doch der Verzicht aufs reale Anschauen, aufs Betasten, das Erleben von Beschaffenheit, der Zeiteinsatz für die Suche – letztlich das Sich-nicht-auf-den-Weg-machen verhindert außerdem Begegnungen auf dieser Entdeckungsreise. Man trifft zwangsläufig seltener zufällig auf Bekannte oder vergibt sich gar die Chance für ein Aufeinandertreffen mit gänzlich unbekannten, aber interessanten Menschen.
Wer sich weniger oft auf den Weg macht, verweilt nur gelegentlich, besucht sicher seltener ein Café oder ein Geschäft, in das die reine Neugier treibt und nimmt außerdem kaum Veränderungen im weiteren Lebensumfeld wahr. Ergo werden natürlich Angebote in der eigenen Stadt seltener registriert. Und man müsste gar über so ein Trendverhalten schlussfolgern, dass vielleicht das Lebensgefühl in einem Ort insgesamt trister erscheinen mag. Als Ausgleich für solche Wahrnehmungen flieht sicher mancher noch etwas mehr in die unerschöpfliche Reizwelt des Internets oder des Fernsehens, um den eigenen Geist mit den Verheißungen der virtuellen Welt zu befüllen. Das Ganze wäre dann eine Verstrickung im Teufelskreis.
Der größte Irrtum, dem man unterliegen kann, schlummert wohl im Gedanken daran, durchs Internet Zeit zu sparen. Kennen Sie jemandem, der seit Beginn des Internetzeitalters berichtet, dass er mehr Zeit hätte? Das Gegenteil ist der Fall. Die Klage über die Beschleunigung des Lebens greift weiter um sich. Seit Einstein wissen wir, dass Zeit und Raum unmittelbar miteinander verknüpft sind, doch blenden wir dies offenbar gern aus. Dann wundern wir uns, wenn wir uns nicht auf den Weg gemacht haben, dass wir über keine Zeit verfügen, dass Werte einem Verfall unterliegen und dass unser unmittelbares Lebensumfeld an Lebendigkeit verliert. Ob das wohl ein wertvoller Weg ist? Thomas Wischnewski

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