Verborgene Chemiewelt

Künstlich oder die Kunst vom Können etwas Neues zu erschaffen

Je nachdem ob etwas eine natürliche oder künstliche Herkunft hat, entscheidet darüber, ob man es als echt oder unecht bezeichnet. Doch die Grenzen zwischen natürlicher und künstlicher Herkunft sind längst fließend. „Kunstprodukte“ haben häufig vorteilhafte Eigenschaften. Die vielschichtige Wechselwirkung zwischen natürlicher und künstlicher Quelle im Innern bleibt oft verborgen. Deshalb breiten sich darüber schnell Halbwahrheiten und Vorurteile aus.
Nach einem Vortrag über aktuelle Ernährungsfragen wurde ich von einer Zuhörerin gefragt, ob denn von künstlich hergestellten Vitaminpräparaten eine gleichwertige Wirkung zu erwarten sei. Ich habe so argumentiert, dass es keinerlei Unterschied macht, ob wir im Reagenzglas hergestelltes Vitamin C oder Vitamin C mit dem Saft der Zitrusfrüchte oder aus Hagebutte-Kapseln aufnehmen. Da in beiden Fällen dem Körper das gleiche Molekül zugeführt wird, hat es auch die gleiche biochemische Wirkung. Drogisten würden hier möglicherweise die von ihnen vertriebenen pflanzlichen Vitamin-Präparaten, wider besseren Wissens, empfehlen.
Bei den meisten Menschen ist „natürlich“ positiv besetzt, wogegen „künstliche“ Produkte als bedingt gut angesehen werden. Eine solche Bewertung widerspricht aber der Wirklichkeit, denn es gibt zahllose Beispiele dafür, dass „künstliche“ Produkte uns schützen, heilen, das Leben erleichtern, freudvoller und farbiger machen. Chemische „Kunstprodukte“ gehören schon seit dem Altertum zum Alltag der Menschen. So beschreibt Plinius der Ältere bereits vor 2000 Jahren die Rezeptur zur Herstellung einer Seife aus Ziegentalg (Fett) und Holzasche (Pottasche). Später wurde die Seife so hoch geschätzt, dass Ludwig XIV., der Sonnenkönig, die besten Seifensieder nach Versailles holte. Vielen ist auch nicht bewusst, dass Insulin zu den Segnungen der modernen Chemie gehört. Nach einer aktuellen Schätzung leiden in Deutschland 6 Millionen Menschen an Typ-2-Diabetes (Altersdiabetes). Davon müssen ca. 1,6 Millionen Deutsche ihren Zuckerstoffwechsel mit „künstlichem“ Insulin regulieren. Bevor dieses Insulin erschaffen wurde, musste es aus den Bauchspeicheldrüsen von Schweinen und Rindern isoliert werden. Der Tagesbedarf eines insulinabhängigen Diabetikers entspricht durchschnittlich einem Schwein pro Woche. Beim heutigen Insulinbedarf würden die natürlichen Quellen für das Insulin schon längst erschöpft sein. Abgesehen von einem riesigen Insulinbedarf gibt es noch einen zweiten Grund, Insulin „künstlich“ herzustellen. Das durch Bakterien hergestellte Rohinsulin ist nämlich nahezu identisch mit dem menschlichen Insulin, wodurch eine bessere Verträglichkeit erreicht wird.
Eine völlig neue Form der Geburtenkontrolle wurde mit der Erschaffung der Anti-Babypille eingeleitet. Deren Inhaltstoffe, Progesteron und Östrogen, unterdrücken den Eisprung. Aber ohne das Mitwirken der Chemie wäre die tägliche Einnahme der Pille nicht möglich. Zum einen wäre sie bei Verwendung von natürlichem Progesteron und Östrogen kaum bezahlbar. Und außerdem hat erst der Eingriff der Chemiker in die Molekülstruktur der weiblichen Geschlechtshormone es möglich gemacht, dass diese Inhaltsstoffe unbeschadet in den Blutkreislauf gelangen können und von dort ihren Zielort erreichen. Auch die Verhinderung von menschlichem Leid durch „Engelmacher“ zählt zu der Erfolgsbilanz der Pille. „The Economist“, eine britische Wochenzeitschrift, kürte die Pille neben dem Microchip, dem Jumbo-Jet 747 und der Mondlandung zu einem der „Sieben Weltwunder der Moderne“.
Ein Beispiel dafür, dass „künstliche“ Produkte unseren Alltag auch komfortabler machen können, sind die nach dem 2. Weltkrieg so sehr begehrten „Nylons“. Dem Amerikaner Wallace Hume Carothers gelang es 1935 mit den Mitteln der Chemie eine in der Natur nicht vorhandene Faser herzustellen, ein Kunstprodukt. Im Unterschied zur Naturseide, dem Ausscheidungsprodukt der Seidenraupe, sind aus Nylonfasern hergestellte Damenstrümpfe praxistauglicher (z.B. kein Verfilzen beim Waschen) und somit denen aus Naturseide überlegen. Oberbekleidung aus Nylon und Perlon (ein dem Nylon verwandtes Kunstprodukt) haben einmal sehr das Lebensgefühl in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geprägt. Die Entstehung des Namens Nylon ist übrigens nicht ganz klar? Einer Anektode nach wollte der Erfinder damit ausdrücken, dass mit der Erschaffung der Nylonfaser das Monopol der Japaner auf die Produktion der Naturseide gebrochen wurde: „Now You Lousy Old Nipponese (Jetzt haben wir Dich, Du lausiger Japaner)“.
Woran liegt es nun aber, dass „künstlich“ häufig mit „minderwertig“, „synthetisch“, „unnatürlich“, „unecht“ oder vielleicht sogar „giftig“ gleichgesetzt wird? Spontan fällt mir dazu ein, dass „künstlich“ zum einen inflationär und oft auch in einem falschen Zusammenhang gebraucht wird. Dazu das Beispiel „Kunsthonig“. Man kann ihn leicht herstellen, wenn man zu einer konzentrierten Zuckerlösung etwas Zitronensäure oder Milchsäure zusetzt und das Ganze einige Zeit köchelt. Das Ergebnis ist eine zähflüssige Masse, die zu je 50 % aus Traubenzucker (Glucose) und Fruchtzucker (Fructose) besteht. Kunsthonig enthält zwar „natürliche“ Stoffe, hat aber aufgrund seiner simplen Zusammensetzung nicht viel gemeinsam mit dem Geschmackserlebnis, dass wir vom Ausscheidungsprodukt der Honigbienen kennen. Dass Imker gegen die Verknüpfung der Wörter Kunst und Honig Sturm gelaufen sind, versteht sich von selbst.
Wahrscheinlich hat auch schon Napoleon dazu beigetragen, dass das Adjektiv „künstlich“ mit einem Negativimage belastet ist. Um nach der verlorenen Seeschlacht bei Trafalger, Großbritannien doch noch in die Knie zu zwingen, hat er 1806 die Kontinentalsperre verhängt. Durch diese Wirtschaftsblockade sollte der Export von englischen Industrieprodukten nach Europa unterbunden werden, und so die Wirtschaft von Großbritannien ruiniert werden. In der Folge der Handelsblockade mussten die ursprünglichen Importe durch inländische Ersatzstoffe (Surrogate) ersetzt werden. Jetzt waren die Techniker und Chemiker gefordert, die Folgen für die französische Wirtschaft und die, der von Frankreich besetzten Länder, zu mildern. Durch diesen Handelskrieg mit Großbritannien wurde der auf dem Kontinent begehrte Bohnenkaffee knapp und teuer. Auf den Markt kam jetzt ein Zichorienkaffee (franz. „Mocca faux“; deutsch verballhornt „Muckefuck“). Zu seiner Herstellung wurde die geschnittene, fleischige Wurzel der Zichorie, der blaublühenden Wegewarte, geröstet und danach zu „Kaffeepulver“ verarbeitet. Allein in Magdeburg gab es in dieser Zeit 14 Zichorienkaffeefabriken mit 1200 Arbeitern. Es muß nicht betont werden, dass die Qualität der Ersatzstoffe der  der vorherigen Importe weit hinterher hinkte.
Wesentlichen Anteil an der Verwirrung um die Begriffe „natürlich“ und „künstlich“ hat aber auch die Qualität des heutigen naturwissenschaftlichen Unterrichts und die Möglichkeit seiner Abwahl. Dies hat dazu geführt, dass die von den Chemikern beherrschte Kunst der Stoffumwandlung heute so wenig verstanden und geschweige denn geschätzt wird. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat die Leis-tungsfähigkeit der chemischen Industrie einen weltweiten Maßstab gesetzt. Deutschland war einmal die „Apotheke der Welt“. Von dieser Hochzeit der Naturwissenschaft zeugen zahlreiche Nobelpreise. Das neue Wissen wurde auf vielfältige Weise der Gesellschaft mitgeteilt, so u.a. durch die damals sehr populären Kosmos-Bändchen. Obwohl heute die Medien allgegenwärtig sind, wird durch sie die Verbreitung naturwissenschaftlicher Grundkenntnisse kaum nachhaltig gefördert. Das führt dann dazu, dass aus Unkenntnis zur Entfernung von Kalkflecken in der Küche oder im Toilettenbereich mit einem „Putzen ohne Chemie“ geworben werden kann, obwohl in der gleichen Werbung der Einsatz von Essig oder Zitronensäure empfohlen wird. Dabei sollte aber auch den Werbefachleuten klar sein, dass diese Art der Kalkflecken-Entfernung auf einer chemischen Auflösung beruht. Andererseits wird für eine chemische Reinigung von Textilien geworben, obwohl hierbei oft keine Chemie im Spiel ist. Bei der Reinigung werden Lösungsmittel eingesetzt und somit ist die Fleckenentfernung ein rein physikalischer Vorgang.  
Man kann aber auch die Bedeutung von “künstlich“ in einen anderen Zusammenhang stellen, nämlich so, dass „Kunst von Können“ kommt. Dazu ein kurzer Rückblick. Im 19. Jahrhundert glaubten die Chemiker, dass Stoffe des pflanzlichen oder tierischen Körpers, also organische Stoffe, niemals mit Chemie hergestellt werden können. Das Denken der Chemiker wurde von der felsenfesten Überzeugung beherrscht, dass für die Bildung organischer Stoffe eine besondere Lebenskraft, die „vis vitalis“, vorhanden sein muß. Diese Kraft wurde als charakteristisches Merkmal des pflanzlichen und tierischen Stoffwechsels angesehen. Erstmalig erschüttert wurde diese Vorstellung 1828 durch den Mediziner und Chemiker Friedrich Wöhler. Dem gelang es nämlich, Harnstoff aus „anorganischer“ Materie im Reagenzglas herzustellen. Es berührt einen auch noch heute zu lesen, wie Wöhler seinem Lehrer über diese Entdeckung berichtet: „Ich kann, so zu sagen, mein chemisches Wasser nicht halten und muss ihnen sagen, daß ich Harnstoff machen kann, ohne dazu Nieren oder überhaupt ein Thier, sey es Mensch oder Hund, nöthig zu haben…“. Doch die Vorstellung von der „vis vitalis“ lebte noch fast ein Jahrhundert weiter.
Das Färben von Stoffen mit pflanzlichen Farbstoffen war lange Zeit ein Engpass. Diese mussten nämlich, wie der blaue  Indigofarbstoff, oftmals aus Übersee importiert werden. Da bekanntlich Not erfinderisch macht, wurden aufwendig Naturstoffe aus Pflanzen isoliert und ihre Chemie entschlüsselt, um darauf aufbauend, diese synthetisch (künstlich) herzustellen. Durch die großen Erfolge der Chemie bei der Herstellung von textilen Farbstoffen, Medikamenten, bei der Ernährungssicherung und der Entwicklung neuer Werkstoffe erwarb sie sich großes Ansehen als Alleskönner, und die Chemiker genossen wachsendes Ansehen. Auf ihrem kreativen Leis-
tungsvermögen und der Fähigkeit alle möglichen Naturstoffe billig und in unbegrenzter Menge herstellen zu können, begründete die Gesellschaft einen grenzenlosen Zukunftsoptimismus. Als es dann auch noch gelang, Vitamin B12 herzustellen, ein Stoff mit einer äußerst komplizierten molekularen Architektur, dessen Mangel im menschlichen Körper eine bösartige Blutarmut verursacht (perniziöse Anämie), hatten die organischen Chemiker, bildlich gesprochen, den Mount Everest erstiegen. An der Synthese von Vitamin B12 arbeiteten 100 Chemiker der Schweiz und der USA von 1961-1972. Leider wurde in den folgenden Jahren das öffentliche Ansehen der Chemie durch bedauerliche „Chemieunfälle“, wie das Dioxin-Unglück im italienischen Seveso (1976), beschädigt und die Chemie von Umweltschützern unterschiedlicher Coleurs in der Gesellschaft diskreditiert. Glücklicherweise wird sie heute wieder mehr und mehr als Problemlöser wahrgenommen, z.B. bei der zukünftigen Energieversorgung (Solarzellen, Brennstoffzellen).
Aber ist es nicht so, dass sich die Begriffe „natürlich“ und „künstlich“ auch immer mehr verwischen. Kehren wir noch einmal zur Insulinherstellung zurück. Hierbei wird mit künstlichen Mitteln in ausgewählte menschliche Darmbakterien (Escherichia coli) ein menschliches Gen implantiert, und diese, nun nicht mehr natürlichen Bakterien, produzieren Insulin. Selbst unser Frühstücksbrötchen hat natürliche und künstliche Wurzeln. Brötchen kommen in der Natur nicht vor und sind damit Kunstprodukte. Zu ihrer Herstellung werden Weizen- oder Roggenmehl benötigt. Mehl wird anschließend mit Wasser und Backhefe oder Sauerteig vermischt und im Ofen zu dem Kunstprodukt Brötchen umgesetzt. Aber wird denn durch diese Kenntnis seiner Herkunft der Genuss eines Frühstückbrötchens geschmälert?
Und noch ein letzter Gedanke hierzu: Unser Körper ist ein riesiges Chemielabor mit vielfältig vernetzten chemischen Reaktionen. Krankheiten werden größtenteils durch eine gestörte Chemie der Körperzellen verursacht. Damit muss aber auch klar sein, dass abgesehen von einem operativen Eingriff zur Entfernung einer entgleisten Gewebechemie (Tumor), auch chemische Eingriffe (Medikamente) notwendig sind, um eine Krankheitsursache zu beseitigen. Es ist also längst Zeit, das Klischee, „natürliches heilt, künstliches bedroht“ über Bord zu werfen. Prof. Dr. Peter Schönfeld


Der Autor

Prof. Dr. Peter Schönfeld, Mitglied des Professoren Kollegiums „emeritio“, studierte Chemie an der TU Dresden und promovierte dort. Er habilitierte sich im Fachbereich Biochemie an der Medizinischen Fakultät der OvGU. Seine Forschungsaktivitäten sind auf den Energiestoffwechsel der Zelle ausgerichtet.

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