Traum vom afrikanischen Himmel

Kugelstoßerin Jule Steuer ist Magdeburgs „Eliteschülerin des Sports 2016“. Jetzt strebt die 16-Jährige einen Start bei der U18-Weltmeisterschaft in Nairobi an.
Als sie mit ihrem sommerlichen Hosenkleid die in dieser Mittagstunde leergefegte Leichtathletik-Halle betritt, tippt man auf den ersten Blick kaum auf eine Kugelstoßerin. Jule Steuer, „Magdeburgs Eliteschülerin des Sports 2016“, könnte eher als eine Kanutin, Ruderin oder Handballerin durchgehen. „Ja, das stimmt schon“, sagt sie im Gespräch mit Magdeburg Kompakt, „mit meinen 1,75 Meter und knapp 75 Kilo gehöre ich in meiner Sportart eher zu den Leichtgewichten. Da muss ich in Zukunft sicher noch einiges tun.“ Sie lacht: „Aber bitte nur Muskelmasse, Fett sollte es auf keinen Fall sein.“ 
Gewicht hin, Gewicht her. Mangelnde Kilos haben die 16-Jährige mit dem langen Pferdeschwanz – im September wird sie 17 – in ihrer noch jungen Karriere keineswegs gehindert, bereits den einen oder anderen bemerkenswerten sportlichen Erfolg einzufahren. Der erste war die Berufung ins deutsche Nachwuchsteam. Auf die Wettkampfkleidung mit dem Bundesadler ist sie richtiggehend stolz: „Ich trage sie echt mit Ehrfurcht. Als ich sie bekommen habe, musste ich zu Hause vor meiner Familie gleich mal ,Schaulaufen‘ und Fotos machen.“ Der bisher größte Erfolg: die Silbermedaille bei den U18-Europameisterschaften vor gut einem Jahr im georgischen Tiflis. Da war sie gerade 15. „Ich bin dorthin gefahren, um auf jeden Fall in den Endkampf zu kommen – und habe heimlich von einer Medaille geträumt. Dass es dann gleich Rang zwei wurde, war fantastisch.“
Dieses Silber von Tiflis hat auch entscheidenden Anteil daran, dass Steuer am Jahresende zur besten Eliteschülerin der beiden Magdeburger Sportschulen gekürt wurde, eine Auszeichnung, die von der Stadtsparkasse vergeben wird. „Irgendwie hatte ich mir schon Chancen auf diesen Titel ausgerechnet“, erzählt sie. „Doch als der Termin heran war und keiner auf mich zugekommen war, dachte ich schon: Schade, nicht geschafft.“ Was sie nicht wusste: Die Verleihung war zeitlich verschoben worden. Umso größer die Freude, als ihr die Leitung der Sportsekundarschule mitteilte, die Wahl sei auf sie gefallen. Gegen große Konkurrenz der Besten des gegenüberliegenden Sportgymnasiums übrigens. Mit stattlichen 7.000 Euro ist der Preis dotiert. Er wandert allerdings nicht auf Steuers Sparbuch, sondern kommt der Förderung des Nachwuchses beider Sportschulen generell zugute. Ihr bescheiden-lakonischer Kommentar: „Finde ich gut so.“
Bei den Leichtathleten „turne ich rum, seit ich vier bin“, berichtet Jule Steuer, die vor einigen Wochen die letzten Prüfungen an der Sekundarschule absolvierte. Ab Herbst steht ein soziales Jahr auf dem Programm, dass sie bei ihrem Verein SC Magdeburg absolviert. „Darauf freue ich mich schon, weil ich so auch die Chance habe, Kinder zu trainieren und mich in anderen Dingen auszuprobieren.“ Beruflich „steuert“ die junge Frau, die sich auch fürs Marketing interessiert, zunächst eine Laufbahn bei der Bundespolizei am Leistungszentrum im brandenburgischen Kienbaum an: „Im März nächsten Jahres bewerbe ich mich.“
Zu den Leichtathleten ist Jule Steuer „durch meine Geschwister gekommen“, wie sie sagt. „Ich habe da alles ausprobiert, war lange Zeit Mehrkämpferin. Aber das Laufen war, ich gebe es zu, nicht so meine Sache. Als ich es dann intensiver mit Kugel und Diskus versucht habe, hat mir das richtig Spaß gemacht, zumal die Erfolge nicht ausblieben.“ Ab der Altersklasse 13 stand auf den Sieger-Urkunden der Kugelstoßwettkämpfe in Sachsen-Anhalt in ihrer Altersklasse und später auch in Mitteldeutschland nur ein Name: Jule Steuer. An einen Tag erinnert sie sich, als wäre es heute: „Ich saß in der Halle und habe der großen Nadine Kleinert zugeschaut. Irgendwann hat sie mich aufgefordert, ihr doch mal zu zeigen, was ich drauf habe.“ Die Magdeburger Kugelstoß-Legende Kleinert muss vom Talent des jungen Hüpfers überzeugt gewesen sein, denn kurz darauf landete Steuer in deren Trainingsgruppe – für sie hing der Himmel voller Geigen.
Inzwischen träumt Magdeburgs Nachwuchs-Hoffnung vom Himmel über Afrika. Denn im Juli stehen in Kenias Hauptstadt Nairobi die U-18-Weltmeisterschaften an. „Da will ich als Vizeeuropameisterin unbedingt dabei sein. Ein Start in Afrika, das hört sich doch gut an.“ Derzeit rangiert sie mit einer Jahresbestleistung von 17,27 m in der Weltrangliste auf Position sechs. In der Halle hat sie die 3-Kilo-Kugel aber schon über die 18-Meter-Marke gewuchtet (18,01). Verletzungen und kleinere Krankheiten haben sie in diesem Jahr ein wenig zurückgeworfen. „Aber wenn ich in Nairobi dabei sein sollte, dann will ich auch um eine Medaille kämpfen.“ Klaus Schneider, der ehemalige Bundestrainer und seit drei Jahren ihr Coach, wiegt mit dem Kopf: „Jule war zuletzt öfters krank und verletzt. Mal sehen, ob wir das bis zur WM noch hinbekommen. Wenn sie dann ihre Stärken – eine vernünftige Technik und die Fähigkeit, gut Spannung aufbauen zu können – ausspielen kann, ist sicher einiges möglich.“ Das Wort Medaille nimmt der erfahrene Mann nicht in den Mund.
„Wie dem auch sei“, sagt Steuer in ihrer burschikosen Art, „Nairobi wird auf jeden Fall nicht meine letzte Chance sein.“ Das „echte Magdeburger Mädchen“, wie sie sich selbst bezeichnet, hat auch ansonsten ganz konkrete Vorstellungen von ihrer weiteren Laufbahn: „Am liebsten würde ich immer beim SCM bleiben. Das ist mein Verein. Hier bin ich zu Hause.“ Und, das sagt sie (noch) nicht: Sie könnte, wenn alles klappt, einmal den Erfolgsweg der Magdeburger Kugelstoßerinnen Kathrin Neimke (Olympia-Silber 1988, Olympia-Bronze 1992) und Nadine Kleinert (Olympia-Silber 2004 und Europameisterin 2012) fortführen. Rudi Bartlitz

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