Gestern, als noch Zukunft war …

Der Tod, der unliebsame Begleiter, macht uns lebenslang zu schaffen. Und es fällt schwer, ihm im Leben zu begegnen. Doch wo sollten wir es sonst tun?
Noch bevor wir als Kinder das Wunder des Leben richtig fassen können, wächst schon ein zartes Begreifen über die eigene Endlichkeit heran. Nicht, weil man selbst wissen würde, was die Endgültigkeit bedeuten sollte, sondern weil es uns von anderen erzählt wird, weil uns vielleicht die Nachricht über den Tod eines nahen Verwandten ereilt. Doch was es mit diesem Gevatter, der jedes Band zum Leben durchtrennt, wirklich auf sich hat, bleibt zeitlebens eine unbeantwortete Frage. Jeder muss sich selbst einen Reim darauf machen und mit dem unausweichlichen Schicksal zurechtkommen. Die Ideen, in denen sich der Mensch über das Ableben hinausdenkt, sind vielfältig. In ihnen schlummert der Trost über die Unausweichlichkeit, das Leben begreifen zu dürfen, aber nicht das Ableben. Was Wunder war, wird Widersinn. Und so leben wir in ständiger Verdrängung über die Ungewissheit der letzten Gewissheit.

Der Umgang mit dem Tod ist aber nicht nur eine einsame Auseinandersetzung des Individuums. Seine Bedeutung erfasst vor allem jene, mit denen man in Bluts- oder Freundschaftsbanden verbunden war. Im Verlust liebgewonner und teurer Begleiter wird jeder von tiefer Trauer erfasst, oft plötzlich und unerwartet, manchmal absehbar und unter schmerzlichem Leid. Kein Schrecken des Lebens kann schrecklicher sein als das Schicksal, selbiges zu verlieren. Sicher liegt darin der Keim, warum wir oft nicht wahrhaben wollen, was wirklich Wahrheit ist. Ausgeblendet, unausgesprochen bleibt die letzte Gewissheit im Nebel. Irgenwann gibt es für jeden einen Scheidepunkt, an dem die Zukunft kürzer und die Vergangenheit länger wird. Und unter dieser imaginären Wende verändert sich manches. Nicht alles will fortwährend angefangen und aufgebaut werden. Milliarden Augenblicke reihten sich aneinander, formten die Persönlichkeit und die eigene Geschichte. Am wachsenden Bewusstwerden über ein vollzogenes Selbst hängt der Lebensfaden. Je mehr Menschen damit verwoben sind, umso größer die Trauer über das Scheiden.

Offenbar hat sich unser Umgang mit dem Tod, mit Trauer und Erinnerung verändert. Vorgenerationen mögen das Ableben eines Verwandten selbstverständlicher gesehen haben. Tod und Sterben gehörten in die Gemeinschaft von mehreren Generationen. Großeltern und Eltern blieben in der Regel bis zum letzten Atemzug unter dem gemeinsamen Dach. Trauer und gegenseitiges Halten im schmerzlichen Verlust war gemeinsame Sache. Heute greifen hier demografische Veränderungen. Ein- und Zwei-Kind-Familien oder gar eine gewachsene Anzahl von Kinderlosen machen das Sterben noch einsamer, als es wahrscheinlich in Vorzeiten war. Auch das Leid am Verlust ist dann kaum teilbar. Ein beschleunigtes Leben zeigt ebenso Wirkung. Die Dienstleistung der Bestatter ist rund um die Uhr abrufbar. Das Abschiednehmen als gemeinsames Erlebnis die Ausnahme. Aber es gibt noch traditionelle und berührende Momente, in denen die Familie zusammenkommt, wo Kinder den Mut haben und sich die Zeit gönnen, die verstorbene Mutter oder den Vater zu waschen und anzukleiden, den Sarg herzurichten und daran zu wachen. Wahrscheinlich hilft dabei eben der gemeinsame Weg. Doch so ein Umgang ist selten und offenbar seltener.

Eine junge Frau wohnte mit ihren Kindern im Haus einer hochbetagten Dame. Mit 93 Jahren schlief diese eines Nachts ein. Die Mitbewohnerin informierte die beiden Söhne. Sie kamen und bestellten den Bestatter. Die junge Frau bat die Männer darum, ihre Mutter über die Nachtstunden im Haus zu lassen. Ihr ganzes Leben hatte sie hier verbracht, die Kindheit erlebt, die Familie versorgt und schließlich auf den letzten Tag gewartet. Jetzt sollte die Verstorbene schnell aus dem Haus gebracht werden. Es gab keine Not für die Eile, aber die Söhne entschieden sich gegen ein Verweilen. Die junge Frau hatte der Gedanke bewegt, dass der Geist der Dame noch Zeit zum Abschied brauche, dass man die Verstorbene nicht barsch aus den Räumen reißen dürfe, die sie über so viele Jahrzehnte belebt hatte. Der Wunsch der jungen Frau blieb ungehört. Vielleicht ist dieses Beispiel ein wenig symptomatisch für unsere Zeit, in der die Taktraten des Lebens auch für den Tod zu gelten hätten.

Obwohl das Freizeitpotenzial für eine Mehrheit über die letzten 30 Jahre gewachsen ist, schrumpft die Zeit im Umgang mit dem Tod. Überhaupt tun wir uns mit den ungemeinen Unannehmlichkeiten schwer. Über der Endlichkeit könnte weniger Schweigen liegen. Reden würde vielfach helfen. Menschen in der Mitte des Leben geben sich irritiert, wenn Alte scheinbar in der Vergangenheit gefangen sind und fortwährend über ihr Früher reflektieren. Dabei gehört dies zur normalsten Sache der Welt. Wenn der nächste Morgen schon zur großen Unwahrscheinlichkeit wird, über welche weite Zukunft sollte ein Mensch dann reden? Lebenserfahrung ist auch ein Prozess der Desillusionierung. Zukunftsträume sind in der Jugend am größten und schönsten. Im Herbst des Lebens gilt die reale Nähe mehr als ein Versprechen für künftige Zeiten. Was vor dem Tod nicht beredet wird, kann danach nicht mehr gelöst werden. Wie groß sind die Vorwürfe über Versäumnisse, wenn nichts mehr gutzumachen ist? Zukunft ist für jeden ein vergängliches Gut. Aber warum verdrängen wir das stets und ständig und reden über eine Ewigkeit, die mit der Spanne zwischen Geburt und Tod nichts zu tun hat? Die Dramatik des Lebensendes speist sich auch aus dessen dramatischer Verdrängung.

Sicher fließt in den heutigen Umgang mit dem Tod auch der Verlust an Religiösität ein. Ein gemeinsamer Glaube mag jedem einen tröstlicheren Weg in die Vorstellung vom Jenseits eröffnet haben und außerdem die Verbindung ein Gleicher unter Gleichen zu sein, die in Not und Tod füreinander im Gebet sind. Möglicherweise liegt darin auch ein Grund, warum viele Menschen am Ende ihres Lebens den Glauben an eine höhere Kraft neu für sich entdecken.

Der Tod ist mit den Lebenden und deshalb gilt es, ihm mit Lebendigkeit und Gelassenheit zu begegnen. Abschied von einem Menschen und Erinnerung an ihn sind eine Essenz, die unsere Tage mitprägt. Es gab jemandem in unserem Sein, der Spuren hinterlassen hat. Nicht Abwendung, sondern Hinwendung ist wichtig. Gedanken an die eigene Geschichte, verbindet sich stets mit anderen. Wer, wie und was wir sind, sind wir nur im Spiegel der anderen. Generationen vor uns sind das Fundament auf, dem wir wachsen, Wegbegleiter unser Gemeinsinn. Alles, was uns ausmacht, hat mit jenen zu tun, die schon gegangen sind. Das unfassbare Nichts kann nicht anders sein, als das, was bereits war, bevor wir wurden. In unseren Gedanken mögen wir uns einsam fühlen, doch haben wir selbst diese nur deshalb, weil uns unsere Vorfahren die Möglichkeit des Begreifens einpflanzten.
Gestern, als noch Zukunft war, war ebenso Vergangenheit. Und morgen wird Zukunft sein, wenn wir uns des Gesterns erinnern können. Thomas Wischnewski


Gestern, als noch Zukunft war,
hieß Hoffnung dein Begleiter,
es lag der Morgen sonnenklar
und alles drängte weiter.

Gestern, als noch Zukunft war,
trieb dich Kraft ins Schaffen.
Doch unbegreiflich sonderbar
die Wunden, die nun klaffen.

Heute herrscht die Dunkelheit,
kein Licht bestrahlt mehr Tage.
Im Tod trennte die Endlichkeit
Antworten von jeder Frage.

Thomas Wischnewski

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