Funkstille zu den Kindern ist wie Mord an der Seele

Die Schlussmacher – Wie Eltern leiden, wenn Kinder den Kontakt zu ihnen abbrechen

Es kam plötzlich. Ohne Vorwarnung und wie heute üblich über die elektronische Post. Mit 18 Jahren kündigte Sören Wild (Name geändert) seinen Eltern jeglichen Umgang per Mail auf. „... Ich möchte keinen Kontakt mehr zu Euch. Weder persönlich noch telefonisch. Ich fordere Euch auf, mich nicht mehr anzurufen. Dies ist eine persönliche Entscheidung und ich bitte, dass Ihr diese res-pektiert.“ Grußlos.

Für Maria und Leonhard Wild brach in diesem Moment eine Welt zusammen. Sie wussten, wo ihr Junge wohnt. Standen vor seiner Tür mit tränenschweren Augen. Weder auf Klopfen und Klingeln erfolgte eine Reaktion. Obwohl sie sicher waren, das Sören zu Hause ist. Sie hatten beim Lauschen an der Tür Geräusche gehört. Der Fernseher lief wie immer und auch das Licht brannte in den Zimmern. Nur eben keine Reaktion ihres Kindes.

Der Weg nach Hause erfolgte mit gegenseitigen Schuldvorwürfen. Was haben wir falsch gemacht? Was ist schiefgelaufen, dass sich unser Kind von seinen Eltern abwendet? Vor allem die Frage nach dem „Warum?“ machte Maria und Leonhard seelisch zu schaffen. Auf diese Frage keine Antwort zu bekommen, traf sie am meisten, quält sie bis heute. Seit 2008. Die Zeit heilt alle Wunden – in diesem Fall nicht. Es ist wie eine schwere Trauerphase, die nie enden will. Maria Wild musste in psychiatrische Behandlung. Nach mehr als zehn Jahren hat sie jetzt ihre Depressionen überwunden. Die Ehe auch. Vor 2013 war die Scheidung. Leonhard ist wiederverheiratet, hat neue Kinder. Maria lebt alleine.

Kein Einzelfall in Deutschland. Eltern, die von ihren Kindern verstoßen wurden. Die plötzliche Funkstille zum Nachwuchs trifft viele Familien. Das Thema ist kein Randthema, sondern scheint in vielen Familien gegenwärtig. Das Phänomen „verlassene Eltern“ zieht sich durch alle sozialen Schichten. Sie alle leiden unter dem Phänomen. Genaue Zahlen zu definieren fällt schwer. Eltern, die von ihren Kindern verlassen werden, schweigen meist. Viele verlassene Mütter und Väter spüren bei jeder Frage nach dem Kind die unausgesprochene Mutmaßung, dass sie doch irgendetwas falsch gemacht haben müssen. Es ist ein Tabu-Thema, obwohl man in der Gesellschaft dieses Thema diskutiert. Selbsthilfegruppen sollen den Schmerz lindern, der sich anfühlt, als habe man ein Körperteil verloren.
 
Dabei gibt es laut Psychologen Vorzeichen. Der Kontaktabbruch ist meist die Folge eines Prozesses, der aus vielen mosaiksteinartigen zersetzenden Momenten besteht. Eltern haben den Sprung ihrer Kinder vom Unmündigen zum Erwachsenen – von der Erziehung zur Beziehung – verpasst. Meist wollten sie an alten Hierarchien festhalten. Es geht um Bevormundung, fehlende Anerkennung, gekränkte Eitelkeiten. Ein Kontaktabbruch ohne jede Begründung ist selbst für die Wissenschaft ein noch relativ unerforschtes Gebiet. Und doch sind Mediziner und Psychotherapeuten – nicht zuletzt aufgrund der Anfragen in ihrer Praxen – davon überzeugt, dass mehr Familien betroffen sind, als bisher vermutet. Die familiäre Funkstille ist dabei vielfältig. Ist es Rache der Kinder an der verpatzten Erziehung? Fühlen sie sich falsch verstanden? Oder sind sie leichter beeinflussbar? Eine Ursache für das plötzliche Aus einer bis dahin angenommenen harmonischen Familienbeziehung kann eine naive moralische Überzeugung einer Eltern-Kind-Beziehung sein, in der ein Elternteil – vermutlich ohne es zu wollen– zu dominant ist oder als dominant empfunden wird. In diesen Beziehungen haben selbst erwachsene Kinder das Gefühl, gefangen zu sein. Die Gründe für solch eine Abgrenzung sind Experten zufolge meist in der Kindheit oder Jugend zu finden. Vielleicht fühlte sich der Nachwuchs von den Eltern immer benachteiligt oder ungerecht behandelt. Anzunehmen ist auch, dass sie sich ständig kritisiert, unter Druck gesetzt oder nicht geliebt fühlten. Es kann vorkommen, dass Kinder lange Zeit dieses Problem nicht aussprechen, sondern es sogar in sich „hineinfressen“. Irgendwann jedoch werde es ihnen zu viel und sie brechen den Kontakt ab. Gerade weil es aber ein Abschied ohne Abschiedsbrief sei, sei er für die Zurückgebliebenen nur schwer zu ertragen. Stirbt ein Familienmitglied kann man in einer Trauerphase Abschied nehmen. Einen Kontaktabbruch wie bei Familie Wild aber ist nur schwer zu ertragen, weil man eben nicht abschließen kann. Natürlich gibt es bei einigen Trennungen der Kinder von ihren Eltern auch ein Happy End. Genauso plötzlich wie der Abbruch kam, standen sie wieder vor der Tür, klingelte das Telefon, gab es Annäherungen. In den meisten Fällen allerdings blieb es eine erfolglose Geschichte. Und meist stehen sich nach Jahren der familiären Enthaltsamkeit Fremde gegenüber.

Für Maria Wild steht nur eine Frage im Raum: Was war der Grund für den Kontaktabbruch? Sie kann nur rätseln. Denn der Einzige, der antworten könnte, schweigt. Mittlerweile ist Sören verheiratet, hat eine eigene Familie. Seinen Nachnamen hat er geändert. Er nahm den Nachnamen seiner Frau an. Der Stammbaum der neuen Familie ist rückverfolgbar über mehrere Generationen und Jahrhunderte. Auf dem Stammbaum führt ein Zweig ins Leere: der von Sören Wild. Seine Eltern sind nicht vermerkt. Damit ist jede Verbindung gekappt, sämtliche Suchen im Internet verlaufen im Daten-Nirwana. Eine Antwort darauf, warum gerade ihr erwachsenes Kind von heute auf morgen den Kontakt zu seiner Mutter und dem Vater abgebrochen hat, hat Maria bis heute nicht. Ronald Floum

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