Digital

Digitalisierung ist das Schlagwort, wenn über Zukunft geredet wird. Alle Lebensbereiche sollen sich verändern. Wie viel Digitales verträgt der Mensch?

Digitalisierung, Gigabit-Zeitalter, Künstliche Intelligenz – das sind Vokabeln, die heute in kaum einer Rede fehlen. Und stets wird damit unterschwellig die Mahnung transportiert, dass alle, die sich diesem Trend nicht ausreichend intensiv stellen würden, bald abgehängt seien. Im Selbstverständnis sehen sich Digital-Propheten als Modernisierer und Fortschrittskämpfer, Kritiker werden aus ihrer Sicht dann schnell zu Fortschrittsverweigerern oder Zukunftsverhinderern abgestempelt. Solchen schlichten Bewertungen sei eine andere Plattitüde vorgehalten: Zukunft beginnt mit jedem neuen Tag, unabhängig davon, was man sich gestern vorgenommen hatte.  

Unter dem Strich scheint die Forderung zur Forcierung digitaler Prozesse ein allgemeines Stressklima in der Gesellschaft zu erzeugen, wobei solche Zeitgenossen am lautesten danach schreien – gemeint sind Politiker oder Verbandsfunktionäre –, die selbst gar nicht an den technischen Gegebenheiten der Gegenwart mitarbeiten. Aber egal, werfen wir zunächst einen Blick auf das Wort Daten.  Der Begriff Daten schwebt permanent über jedem. Einerseits ist daraus eine Art Währung geworden, die insbesondere für den Bereich Handel und Konsum wichtig geworden ist, weil vor allem die großen Online-Konzerne wie Google, Amazon oder Facebook aus den gesammelten Daten ihrer Nutzer Werbegelder anziehen. Ihr Versprechen: Sie wüssten zu jederzeit, wie man kauffreudige Zielgruppen erreicht oder wo vielversprechende Kaufanreize verbreitet werden müssten. Wo viel möglich ist, wird auch viel Schindluder getrieben. Amerikanische Staatsanwälte ermitteln inzwischen gegen mehrere Firmen, die massenhaft Klickbetrug erzeugt hatten. Der Schaden, der durch Online-Werbebetrug entsteht wird auf 6,5 Milliarden Dollar schätzt. Sogenannte Bots, automatische Programme, erzeugen Klicks auf Werbung und dafür müssen Firmen im Internet blechen. Die Masche ist zunehmend automatisiert und damit mit immer weniger Aufwand umsetzbar. Die Firma „3ve“ soll über 1,7 Millionen fremde Computer in den USA und Europa mit Malware infiziert und ferngesteuert haben. Bis zu 12 Milliarden Klicks habe das Botnetz pro Tag erzeugt.

Im Prinzip wird jeder, der viel Aufmerksamkeit, Zeit und Einkäufe online erledigt, auch irgendwie in die Irre geführt. Man muss sich stets vor Augen führen, dass aus jedem Bildschirm nur eine von Menschen erzeugte Scheinwelt mit flimmert, die noch für jedes Bedürfnis und jeden Traum Erfüllung versprechen. Und genau weil das so ist, gibt es Täter und Opfer, Verführer und Verführte.

Ähnlich ist es mit dem Missbrauch ganz persönlicher Informationen. Jeder muss irgendwo Einträge vornehmen. Irgendwer findet immer einen Weg, Quellen anzuzapfen. Das beste Beispiel war der 20-Jährige, der jüngst Politiker, Künstler und Journalisten mit Telefonnummer, E-Mail- und Privatadressen vorführte. Wer mit dem Argument, dass man mit ein paar Programmen und entsprechender Hardware im Internet Sicherheit erzeugen könnte, muss leider als ein Scharlatan gelten. Aber im Mittelalter haben Quacksalber auch alle möglichen Mittel zusammengerührt und Heilung versprochen. Die häufigste öffentliche Aufregung gibt es über personengebundene Daten, dabei nehmen diese viel weniger Speicherplatz in Anspruch als die Daten, die aus Messverfahren in Produktionen, technischen Abläufen, medizinischen Untersuchungen und vielen anderen Forschungen anfallen. Darin verbirgt sich die eigentliche Kraft eines Wandels, unter dem Maschinen untereinander kommunizieren und sogenannte Künstliche Intelligenz Prozesse steuert.

Nun bringt genau diese technische Entwicklung eine Menge Vorteile und Erleichterungen mit sich. Schon heute können wir uns ein Leben ohne vernetzte technische Hilfsmittel kaum mehr vorstellen. Es entstehen darunter aber auch ganz neue Arten von Abhängigkeit. Dessen muss man sich bewusst sein. Genauso wie jede neue Möglichkeit neue Probleme hervorbringt, die es zuvor gar nicht gab. Manche sehen das Glas halb leer, andere sehen es halb voll – der Spruch ist eine ähnlich unpassende Einteilung in angeblich zukunftszugewandte und ablehnende Menschen. Hätte man den Erfindern des Automobils seinerzeit vorführen können, welche Folgen durch Flächenversiegelung und Ressourcenverbrauch mit dem Mobilitätskonzept Auto einhergehen würden, wer weiß, ob sie ihre Erfindung wirklich positiv gesehen hätten?

Heute ist es wichtig, zu erkennen, dass sich die Taktrate für neue Geräte weiter verkürzen wird. die Halbwertzeit für Hardware verringert sich. Die Verarbeitung von Daten, noch komplexere Software und schnellere Verbindungen werden den Druck zum Austausch von Geräten erhöhen. Im Prinzip muss man annehmen, dass Produktion und Kaufzwang entsprechend steigen. Alles, was heute unter Umweltschutzaspekten gefordert wird, dürfte bei der Geschwindigkeit beim Technologieaustausch zu Makulatur werden. Fakt ist wohl ebenso, dass der Energiebedarf – insbesondere elektrischer Energie – unter dem fortschreitenden Einsatz und Austausch neuer Technologien zunimmt. Das Bisschen Handy-Aufladen benötigt nur einen Bruchteil des Stromes, der für den Austausch der Daten mit sogenannten Clouds und anderen Speichern benötigt wird. Wie viel Terrawattstunden werden erst sich selbststeuernden Systeme benötigen, die unter Automatisierung 4.0 gefasst werden.

Die technische Revolution und deren Folgen findet wahrscheinlich weniger unter unseren Augen statt, als dass dies in nicht sichtbaren Sphären wie Rechenzentren und menschenleeren Fabriken passiert. Noch ein Aspekt muss kritisch betrachtet werden: Natürlich kann man aus immer mehr Informationen treffsichere Analysen, genauere Statistiken oder bessere Diagnosen ableiten, doch werden diese theorisierten Ableitungen wirklich unserem spontanen, inspirierenden und individuellem Sein gerecht? Warum glauben wir, dass wir aus mehr Berechnungspotenzial und Steuerungsmöglichkeiten mehr Glück und Zufriedenheit ziehen könnten? Die Zukunft ist berechenbar – das ist die Vorstellung, die uns Menschen mittlerweile selbstverständlich geworden ist.

Ihren Anfang nahm sie vielleicht am Ausgang des Mittelalters, als Kopernikus erstmals die Planetenbewegungen berechnen konnte. Heute berechnen wir die Unvorstellbarkeit eines Urknalls oder Energiepotenziale unterhalb der atomaren Ebene, deren Erklärung auf theoretischen, mathematischen und physikalischen Annahmen beruhen. Natürlich haben wir uns diese wissenschaftliche Erkenntnisfähigkeit zum Nutzen gemacht. Das gesamte Feld des Digitalen wäre ohne Quantentheorie und -mechanik gar nicht möglich. Andererseits nährt die Unterwerfung des gesamten Lebens unter Daten, Algorithmen und Statis-tik die Vorstellung, dass wirklich alles berechenbar sei, selbst die Unberechenbarkeit oder das Schicksal. In gewisser Weise geben wir unter solchen Bewusstseinssphären die Einzigartigkeit der Natur und die Invidualität aller Geschöpfe auf. Quasi drängen wir uns selbst in ein digitales, alles beherrschendes Dogma.

Eine derart beschriebene Aussicht mag destruktiv klingen, doch überlassen wir mehr und mehr Entscheidungen einer ins Leben wachsenden künstlichen Intelligenz, die individuelles Verhalten, Meinungen oder gesundheitliche Prozesse an ermittelten Normalverteilungen misst und daraus möglicherweise Vorgaben erzeugt, die dem einzelnen Geschöpf gar nicht gerecht werden kann. Trotzdem glauben wir an die vor uns liegende bessere Zukunft. Dem Menschen ist das Prophetische wesenseigen und von daher docken Berechnungsmöglichkeiten über die Zukunft direkt an unsere Vorstellungswelt an. Allerdings haben die Potenziale der Datenuniversen ein neue Qualität hervorgebracht, die Vorhersagen über die Welt von morgen, das eigene Leben oder das der gesamten Menschheit als noch wahrscheinlicher erscheinen lässt. Dieser uns innewohnende Glauben befeuert das Anwachsen digitaler Technologien. Irritierend ist dabei, dass eine wesentliche Triebfeder eben nicht mit sozialem oder emotionalem Gewinn verbunden ist, sondern mit reiner Konsumrealisierung. Schließlich bauen alle existierenden sogenannten sozialen Medien oder sonstigen Kommunikationsplattformen im Kern auf das gegenseitige Verkaufen von Produkten, Dienstleistungen, Wissen, Ratgebern oder Unterhaltung.

Blickt man auf Partnerbörsen, suggerieren diese selbstverständlich eine größere Auswahl und Erreichbarkeit möglicher Partner, doch zugleich nehmen Frauen und Männer Entfernungen zueinander in Kauf, die Entbehrungen, Sehnsüchte und Enttäuschungen hervorbringen, die ohne Onlinewelt gar nicht möglich werden. Prinzipiell sollte man sich bewusst machen, dass eine Digitalisierung zwar viele Vorteile hervorbringt, zugleich aber riesige Spielwiese der negativen menschlichen Eigenschaften ist.  Neben Kommunikationserleichterungen, bequemen Konsum- und Vergleichschancen potenzieren sich eben auch Neid, Konkurrenz, Enttäuschung, Täuschung, Lügen und Auseinandersetzungen. Es kann sein, dass selbst dafür Algorithmen eines Tages mediatorisch eingreifen, doch was wird dann aus den Fähigkeiten zur persönlichen Konfliktbewältigung?

Der chinesische Alibaba-Gründer Jack Ma prophezeite beim Wirtschaftsforum in Davos, dass der Wettlauf um neue Technologien im Dritten Weltkrieg münden könnte. „Der Erste Weltkrieg wurde durch die erste technologische Revolution ausgelöst. Die zweite technologische Revolution löste dann den Zweiten Weltkrieg aus. Die dritte technologische Revolution steht nun bevor“, warnte er. „In den   nächsten 30 Jahren wird auf der Welt weit mehr Schmerz als Glück sein, weil es viel mehr neue Probleme gibt, die uns begegnen”, sagte Jack Ma vor Monaten bei einer Rede vor dem China Entrepreneur Club. Einerseits sehe er aufkommende soziale Unruhen, andererseits viele verschwindende Arbeitslätze als Folge der Digitalisierung.

Weltuntergangsszenarien haben derzeit auf vielen Gebieten Hochkonjunktur. Genauso, wie andere wiederum rosarote Aussichten versprechen. Für jeden Menschen bleibt trotz aller Datensammelwut und aller technischen Erleichterungen das Leben eine Herausforderung und der Weg, es jeden Tag neu lösen zu müssen. Das mehr Datensteuerung die inneren Sichtweisen, Bewertungen und Gefühle unterlaufen, darf man vielleicht als ein modernes Märchen bezeichnen. Oder wir fragen tatsächlich einst die KI, wie wir uns fühlen und bekommen dann bestimmt die richtige Antwort. Doch genau die Vorstellung, dass man innere Erlebniswelten einer nicht menschlichen Technologie überlassen könnte oder dass dieselbe Antworten für die Zukunft des Individuums bereithalte, ist eine gefährliche Illusion. Schon heute werden Menschen, Unternehmen oder Institutionen auf Bewertungsportalen von anderen mitunter ungerecht an den Pranger gestellt. Solche Erscheinungen wird es künftig sicher mehr geben, weil wir ohne den Glauben an eine ständige Verbesserung und Vervollkommnung gar nicht können. Wir werden vielleicht weiterhin höhere Lebenserwartungen erzeugen, aber sicher nie weniger Probleme, weil es Neues nicht ohne Kehrseite gibt. Thomas Wischnewski

Zurück