Die Macht von Neugier und Trägheit

Das Smartphone hat uns im Griff. Ganze 56 Mal schauen die Menschen im Alter zwischen 18 und 24 Jahren pro Tag auf ihr Handy. Mit zunehmendem Lebensalter lässt das Interesse an Neuigkeiten wieder nach. Im Schnitt blicken Rentner nur noch neun Mal täglich auf das Display. Wir müssen festhalten, das Smartphone verbringt mehr Zeit mit uns als irgendein Mensch. Die meisten tragen das Gerät rund um die Uhr am Körper oder haben es zumindest in unmittelbarer Nähe liegen. Unter 30-jährige sind mittlerweile durchschnittlich vier Stunden pro Tag online. Ein Gegentrend nach statistischen Erhebungen nicht absehbar.

Es ist unsere Neugier und die Angst, etwas verpassen zu können oder gar den Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden, falls man nicht schnell genug antwortet, die den Blick permanent auf den Bildschirm zieht. Und dieselben Medien, die mittlerweile vor der Gefahr einer Abhängigkeit zum Smartphone warnen, befeuern Nachrichten und Informationen, um Menschen auf ihre Inhaltsangebote zu locken. Wer Stunden lang am Tag am Display gefesselt ist, verbringt weniger Zeit im realen Geschehen. Man kann zwar zu viel mehr Menschen Kontakt halten als noch vor dem Online-Zeitalter, vermutlich ist der Austausch untereinander jedoch weniger intensiv.

Es ist nicht nur die zunehmende Nutzungsdauer, die inzwischen als Erklärung für zunehmendes Stresspotenzial, für ein unruhiges Schlafverhalten sowie Unausgeglichenheit herhält und damit Suchterscheinungen hervorruft, es entsteht ein tiefgreifender Wandel für die Wirklichkeit. Wer online ist, trifft sich nicht real, redet nicht in Cafés oder Restaurants und kauft seltener ein. Jeder hat nur 24 Stunden am Tag zur Verfügung und offenbar leiden die realen Aktivitäten unter der höhren Nutzungsdauer an den interaktiven Geräten.

Zweifelsfrei hat die Online-Epoche zahlreiche Vorteile und neue Möglichkeiten hervorgebracht, andererseits aber auch Veränderungen eingeleitet, deren Folgen die Strukturen im Lebensumfeld auflösen.

Außerdem neigt jeder Mensch dazu, das eigene Verhalten als angemessen bzw. alternativlos vor sich oder anderen zu rechtfertigen. Im Prinzip erkärt jeder wunderbar, warum er gerade diesen oder jenen Artikel online gekauft hat und warum das im konkreten Moment nicht anders ging. Ob er besonders günstig, die Auswahl im Onlineshop größer war oder man keine Zeit gehabt hätte, es findet sich immer eine plausible Erklärung für die eigene Trägheit. Am Ende ist es jedoch genau die Summe dieser Plausibilitäten, die aus zunehmenden Einzelaktivitäten weiter anwächst und verursacht, dass in Einkaufsstraßen und Geschäften weniger Menschen unterwegs sind.

Der stationäre Einzelhandel ist seit Jahren unter Druck. Selten eröffnen noch inhabergeführte Läden, wenn sind es große Ketten oder die Läden als Büros oder Dienstleistungsstützpunkte genutzt. Die Attraktivität zum Schauen, Bummeln und Verweilen nimmt ab, wie das Kleben am Bildschirm zunimmt. Einzelhändler werden animiert, ihre eigenen Onlineaktivitäten zu forcieren. Im Prinzip sollten sie in der weiten Welt der Virtualität, die das eigene Fundament untergräbt, mitspielen. Die Folge wird sein, dass jeder versucht, ein wenig Aufmerksamkeit am Bildschirm potenzieller Kunden abzubekommen, nur teilen sich dann noch mehr Anbieter die nicht länger werdende Tageszeit der Nutzer. Oft sind kleine, inhabergeführte Geschäfte, die ohnehin von einem Wust an Aufgaben überschwemmt werden, zeitlich damit überfordert, auch noch Extraangebote und einen eigenen Onlineshop permanent aktuell zu halten. Auf der Gewinnerseite bleiben die ganz Großen wie Amazon, Zalando, Otto und einige andere. Die Digitalisierung im stationären Einzelhandel, die von Verbänden, Kammern und Politik gefordert wird, hält den Lauf der Dinge kaum auf.

Nun kann man einen anderen positiven Effekt dabei hervorheben: nämlich, dass sich der Verkehr in den Innenstädten entspannen würde. Das ist sicher eine zutreffende Begleiterscheinung. Keinstädte würden sich heute jedoch manchen Menschen mehr auf die Straßen und Gehwege wünschen. Die Anziehungskraft von Millionenstädten ist indes noch so, dass man dort auch in den nächsten Jahrzehnten sicher keine leeren Passagen beklagen müsste, aber Mittelzentren werden mit Sicherheit auf Kundenströme verzichten müssen. Die Faszination an den Bildschirmen wird bleiben, weil hier die künstlich erzeugte Welt ständig neue Illusionen und Bildschnipsel erzeugt, die real in dieser Fülle nicht sichtbar wären. Sicher gibt es auch Gegentrends. Wenn alles digital ist, kann Wirkliches vielleicht wieder als Besonderheit herausstechen. Ob das Potenzial ausreicht, um es mit unserem Hang zu Neugier und Bequemlichkeit aufzunehmen, bleibt fraglich. Denn der Bildschirm mit seinen facettenreichen Verführungen ist immer näher am Kunden dran als jeder kleine stationäre Einzelhändler. Thomas Wischnewski

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