Der Wecker der Reformation

Am 28. Mai, zum Evangelischen Kirchentag, gibt neben der Band City auch Konstantin Wecker kostenlos ein Konzert in der Lutherstadt Wittenberg. Ludwig Schumann im Gespräch mit dem Musiker über dessen Wege zu Luther und der Reformation.
Ludwig Schumann: Sie haben sich viel mit den christlichen Mystikern befasst, Sie bezeichnen Dorothee Sölles Buch „Mystik und Widerstand“ als ein Schlüsselerlebnis, weil sie in diesem Buch die Verbindungen aufzeigt von der religiösen Tradition des Mystik bis zu den Freiheitskämpfen der Gegenwart – aber nun folgt auch ein Engagement zum Reformationsjubiläum? Sind Sie in dieser neuen Rolle der „Wecker der Reformation“?
Konstantin Wecker: Also zunächst einmal: Ich bin kein Lutherfachmann. Und ich gebe zu, einer intensiven Beschäftigung mit der Geschichte der Reformation und dem Wirken Luthers bin ich bisher aus dem Wege gegangen. Aber es gibt natürlich Menschen, Protestanten, die sich im Lauf der Geschichte großartig gezeigt haben. Ich nenne Dietrich Bonhoeffer, der am 9. April 1945 im KZ Flossenbürg wegen seines Widerstandes gegen die Nazi-Diktatur hingerichtet wurde. Sie haben einleitend auf Frau Sölle hingewiesen, die ich als Vorbild verehre. Und nicht zuletzt hat mich Margot Käßmann gebeten, mit der ich das Buch „Entrüstet Euch!“, ein Buch zum Thema Pazifismus, geschrieben habe, nach Wittenberg zu kommen und hier auf dem Kirchentag aufzutreten.

Ludwig Schumann: Margot Käßmann kennen Sie. Sind Sie auch Dorothee Sölle begegnet?
Konstantin Wecker: Ich habe ihr Buch „Mystik und Widerstand“ in meiner Biographie erwähnt. Es ist mir ein ganz wichtiges Buch geworden. Was mich persönlich im Nachhinein ärgert: Wir sind uns ja öfter in der Friedensbewegung über den Weg gelaufen. Ich war freilich damals nicht so mit ihrem Werk, ihrer Arbeit, vertraut, wie ich es nach ihrem Tod wurde. Insofern gibt es keine wirkliche Begegnung mit ihr. Frau Sölle war in ihrer Kirche ja nicht unumstritten. Das ist wahrscheinlich das Schicksal von Menschen, die anderen Menschen religiös ein Vorbild sein können, dass sie mit ihren jeweiligen Amtskirchen Ärger kriegen. Mein Freund Eugen Drewermann ist ja letzten Endes auch aus seiner katholischen Kirche ausgetreten.

Ludwig Schumann: Was sehr schade ist, weil die Kirchen solche Menschen eigentlich pflegen müssten.
Konstantin Wecker: Ja, jedenfalls hat mich die Beschäftigung mit dem Werk beider Damen, Frau Sölle und Margot Käßmann, mehr nach Wittenberg gezogen als eine Beschäftigung mit Luther.

Ludwig Schumann: 2015 ist das Buch „Liturgie von links – Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche“ von Anselm Weyer erschienen. In den Politischen Nachtgebeten ging es Dorothee Sölle und ihren Kölner Mitstreitern darum, den christlichen Gottesdienst zu politisieren. Das gab viele unterschiedliche Reaktionen, sowohl seitens der Kirche, als auch eine Bespitzelung durch den Bundesnachrichtendienst. Aus dieser Arbeit ging bei Sölle die Gründung der „Christen für den Sozialismus“ hervor, einer Bewegung, die sich ursprünglich im Chile Salvador Allendes gegründet hatte. Liegt es eigentlich im Urgrund des Glaubens, in seiner Subversivität, die man ja schon im Alten Rom fürchtete, dass viele, die sich ernsthaft mit dem Glauben beschäftigten, zu linken Ideen kommen?
Konstantin Wecker: Der Revolutionär Jesus aus Nazareth, ich nenne ihn lieber wie Eugen Drewermann „den Mann aus Nazareth“, ist der Urgrund der barmherzigen Revolution. Für mich ist er der größte Revolutionär der Menschheitsgeschichte. Er hat in der Zeit der Massenmörder – nehmen wir nur die Kaiser des Römischen Reiches als Beispiel – das Recht auf Unversehrtheit des einzelnen Menschen, hat die Nächstenliebe zur Botschaft erhoben. Was für ein Paukenschlag in der Menschheitsgeschichte. Die Erkenntnis des Mannes aus Nazareth entwickelte eine solche Kraft, dass es nicht einmal den Kirchen gelang, diese Botschaft, trotz des häufigen Missbrauchs, zu zerstören. Ein großer Lichtblick ist da für mich als ehemaligen Katholiken der heutige Papst Franziskus. Ein erstaunlicher Mann, der es trotz zunehmender Machtfülle schafft, revolutionärer, uneitler und weniger der Macht verfallen zu sein. Er ist in seiner Kirche ja auch nicht unumstritten. Das macht für mich einen Mystiker aus. Mystiker ecken in ihrer Kirche an. Indem sie über ihre direkte Begegnung mit Gott sprechen können und keinen Vermittler brauchen – sich damit freilich auch der Aufsicht entziehen – also aus Innen leben, entziehen sie sich auch der Kontrolle der Kirchen. Damit können Institutionen überhaupt nicht umgehen.

Ludwig Schumann: Ich darf noch mal erinnern: Kommen Ihrer Meinung nach Menschen, die sich einem politischen Glauben zuwenden, zwangsläufig links an? Zumindest fallen mir da Namen wie Sölle, wie Friedrich Schorlemmer, der den Kapitalismus an seinem Ende sieht, wie Jean Ziegler, der sich kürzlich noch einmal zu seiner Vision, dass am Ende dieser klassenkämpferischen Zeit der Kommunismus stehe, bekannte, Bodo Ramelow, der thüringische Ministerpräsident, ein.
Konstantin Wecker: Ich will da noch einmal auf Frau Sölle zurückkommen. Sie beeindruckte mich durch den aufrechten Gang, den sie immer bewiesen hat. Mich beeindruckte noch mehr, dass sie nie von ihrer Spiritualität, von ihrer Tiefe, von ihremreligiösen Grundbewusstsein Abstand genommen hat. Wobei sie nicht nur aus ihrer Kirche Angriffe erlebte, sondern auch aus der linken Szene, vonden linken Materialisten. Was mich aber am meisten beeindruckte, war, dass sie aus ihrer Beschäftigung mit Theologie und Politik zu einem in seiner Konsequenz einschneidenden Schluss kam, übrigens nach ihrer Begegnung mit der großen alten Dame eines kompromisslosen Katholizismus, der Gründerin von „Catholic Worker“ und „Brot und Rosen“, Dorothy Day, zugleich auch Pazifistin und Anarchistin: Sie stellte die entscheidende Frage nach dem Recht auf Eigentum des Menschen. Wieso gibt es eigentlich das Recht des Menschen auf Besitz? Das ist natürlich die Frage, die im Kapitalismus auf extremen Widerstand stößt. Bei Eugen Drewermann hörte sich das kürzlich in einem Vortrag folgerdermaßen an: „Ich möchte Ihnen, meine Damen und Herren, jetzt eine Frage stellen, die Sie wahrscheinlich erschüttern wird, Aber wollen wir nicht einmal die Frage zum Eigentum, zum Recht des Einzelnen auf Eigentum, aufwerfen?“

Ludwig Schumann: Das ist für mich auch die Schlüsselfrage, um die sich die Linke aus parteitaktischen Gründen bis heute herumdrückt.
Konstantin Wecker: Diese Konsequenz fehlt der Linken weitgehend, ja. Das geht aber auch nur, wenn eine solche Bewegung aus einer neuen Spiritualität kommt. Das eigene Bewusstsein, das Erkennen derselben, das bedarf der Spiritualität. Das kann man nicht in ideologische Zwangsjacken stecken. Das muss man selbst erfahren.

Ludwig Schumann: Ihr letztes Programm hieß „Revolution“. Ihr neues, dass Sie sich zum bevorstehenden 70. Geburtstag am 1. Juni geschenkt haben, heißt „Poesie und Widerstand“. Was heißt für Sie Revolution. Und warum ersetzen Sie Mystik durch Poesie?
Konstantin Wecker: Von Rosa Luxemburg stammt das schöne Zitat: „Eine Welt muß umgestürzt werden, aber jede Träne, die geflossen ist, obwohl sie abgewischt werden konnte, ist eine Anklage; und ein zu wichtigem Tun eilender Mensch, der aus roher Unachtsamkeit einen Wurm zertritt, begeht ein Verbrechen." Das entspricht meinem Verständnis von Revolution. Ich strebe keine Revolution zur Gewalt an, sondern eine Revolution der Zärtlichkeit. Was das ist, erfährt man, wenn man in der Stille mit sich ab und an eins ist. Da wären wir wieder bei den Mystikern. Es gibt ja diese Erlebnisse, die man nur in der Stille findet. Ich durfte einen solchen Moment erleben. Ich saß unter einem Maulbeerbaum. Und plötzlich spürte ich: Das ist der absolute Frieden. Das war ein Moment, an dem ich nichts brauchte, nichts wollte. In dem ich nicht allein war, aber auch nicht jemanden neben mir gebraucht hätte. Ich spürte einfach nur friedvoll da zu sein. Es scheint in uns etwas zu geben, was die Kirche das Paradies nennt, das freilich dort erst nach dem Tod zu erfahren ist. Die Mystiker erfahren es mitten im Leben. Wer das spüren darf, wird beileibe kein besserer, aber ein anderer Mensch. Das Wesen der zärtlichen Revolution ist, dass sie unverträglich mit Ideologien und festgefügten Strukturen ist.
Zur Poesie will ich sagen, dass mein Widerfinden der Spiritualität und des Religiösen mit meinem Verhältnis zur Sprache, zur Poesie zu tun hat. Weil ich mittlerweile anerkannt habe, dass Worte einfach Symbole sind. Wie das die Buddhisten so schön sagen: „Der Finger, der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond.“ Aus diesem Grund habe ich für mich auch nicht mehr das Problem, das Wort „Gott“ zu verwenden. Früher fiel mir das schwer, weil es für mich so belastet war. Ich habe mich in den letzten Monaten viel mit der Frage beschäftigt, was mich ein Leben lang an der Poesie gehalten hat. Rilke hat zur Poesie gesagt: „Die Dinge singen hör ich so gern.“ Und: „Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.“ Und ich kam zu dem Schluss: Die Erkenntnis, dass nichts zu Ende interpretierbar ist und dass wir gerade darum die Interpretationshoheit nicht den Mächtigen überlassen dürfen, das hat mich wohl lebenslang an der Poesie gehalten. Jetzt haben wir freilich nicht viel über Luther geredet.

Ludwig Schumann: Wir haben eigentlich viel über Luther geredet. Für mich gehört er in die Reihe der Mystiker. Er kommt aus dem mittelalterlichen Denken. Er besitzt eine Tiefe des Glaubens wie selten einer, dazu eine Liebe zum Leben wie selten einer. Er gewinnt seine neue Erkenntnis aus der Tiefe seines Glaubens und lässt sie sich um nichts in der Welt abhandeln.
Konstantin Wecker: Ja, ich denke auch so. Ohne dass er in dieser Tradition stünde, wäre er wahrscheinlich nicht zu dieser mutigen, konsequenten Haltung gekommen.

Ludwig Schumann: „Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche aus dem Glauben kommt und zum Glauben führt; wie geschrieben steht: Der Gerechte wird aus dem Glauben leben.“ Das war der Satz aus dem Brief des Paulus an die Römer, der Luther in seinem Turmerlebnis die entscheidende zukunftsweisende Erkenntnis gab: Die Gnade Gottes muss man sich nicht verdienen, die erhält man im Glauben an Jesus geschenkt. Mit anderen Worten: Plötzlich war der Bürger frei und zugleich in Verantwortung. Für die Begegnung mit Gott brauchte es keinen Mittler mehr. Gleichzeitig wurde deutlich: Um diese Erkenntnis weiter zu geben, aber auch, um die Konsequenz dessen erkennen zu können, braucht es eine Schuldbildung für alle, nicht nur für die Eliten. Das war revolutionär. Und wurde durchgesetzt. Wir verdanken letzlich unser Bildungssystem der Reformation. Wenn wir aber festhalten, wo wir heute stehen, braucht es wieder eine Korrektur. Es braucht den freien Zugang zum Bildungssystem. Sonst kommen wir wieder da an, dass die Bildungszugänge eben nicht mehr frei sind, weil es eine Reihe beispielsweise sozialer Hindernisse auf dem Wege zur Bildung gibt. Zudem muss man Bildungsinhalte neu definieren. Reformen können sich nicht in einer Digitalisierungsvorbildung erschöpfen. Ja, und die andere große Errungenschaft des freien Bürgers ist die Verantwortung für die Gesellschaft, beispielsweise in der Einrichtung des Armenkastens, der die willkürliche Almosenvergabe der Kirchen ablöste. Die Bürger mussten dafür sorgen, dass der Armenkasten gefüllt war, sie mussten also soziale Verantwortung, heute würde man von Solidarität reden, übernehmen. Das war und ist der Preis der Freiheit: Das Mühen um Bildung und die Verantwortung für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Das ist mit der 500-Jahr-Feier nicht erledigt.
Konstantin Wecker: Ich will hinzufügen, was mich auch auf diesen Kirchentag „treibt“. Unabhängig von aller Kirchenkritik möchte ich mich an diesem Reformationsjahr beteiligen, weil es in den Kirchen, da schließe ich die katholische Kirche mit ein, einfach ganz wunderbare, sehr engagierte Menschen gibt, die in der Flüchtlingshilfe, in der Kranken- und Altenpflege tätig sind und andersweitig sich großartig engagieren. Diesen vielen großartigen Menschen, denen man da begegnet, bin ich für ihre Arbeit, ihr Dasein dankbar. Das sind die, die still sind, nicht laut. Für die gilt, was ich in meinem Lied schrieb: Es sind nicht immer die Lauten stark, nur weil sie lautstark sind. Es gibt so viele, denen das Leben ganz leise viel echter gelingt. Das ist für mich ein wichtiger Grund, in Wittenberg zu spielen.

Ludwig Schumann: Auf diese Weise wird es ein Nachklang des Politischen Nachtgebets. Und Wecker, der Wecker der Reformation, ein ehemaliger Katholik als sanfter Revolutionär auf protestantischem Boden. Danke für das Gespräch, lieber Konstantin Wecker.


Anselm Weyer
„Liturgie von links“
Dorothee Sölle und das Politische Nachtgebet in der Antoniterkirche
Herausgegeben für die Evangelische Gemeinde Köln von Markus Herzberg und Annette Scholl
104 Seiten mit 20 s/w Abbildungen
Klappenbroschur
9.90 Euro; ISBN: 978-3-7743-0670-7


Konstantin Wecker
Poesie und Widerstand (2 CDs)
Label: Sturm & Klang, 2017
Bestellnummer: 6485964
Erscheinungstermin: 26.05.2017

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