Das Gehirn isst mit

Und zwar etwa ein Fünftel von all dem, was wir uns schmecken lassen. Mit knapp anderthalb Kilogramm macht das Gehirn nur 2 oder 3 Prozent unserer Körpermasse aus, aber es hat einen unverhältnismäßig großen Appetit. Nicht etwa nur, um denken zu können, nein, sein Grundstoffwechsel ist so aktiv. Im Schlaf genauso und auch bei Tieren, denen menschliches Denkvermögen total abgeht. Die Pumpmechanismen für die Ionen benötigen so viel Energie. Geladene Teilchen sind das, die für die elektrischen Vorgänge an den Zellmembranen zuständig sind. Erlöschen diese, wird da oben alles ganz still. Tot sind wir dann.
Die Großeltern sagten immer: Zucker ist Nervennahrung. Und sie hatten in einem gewissen Sinne recht. Denn mit Fetten und Eiweißen, die in unserer Ernährung ansonsten eine große Rolle spielen, ist dem Energiehunger unseres Zentralorgans nicht gedient. Auch nicht mit komplexeren Kohlehydraten, wie sie im Brot oder in der Kartoffel enthalten sind. All das muss zunächst in Einfachzucker umgewandelt werden, genauer: in Glukose, in Blutzucker. Ketone, wie sie aus dem Fettabbau stammen, sind ebenfalls geeignet. Sowohl für die Glukoseproduktion als auch für die der Ketone sorgt die Leber. Sie verwendet dazu vor allem das, was der Darm ihr anbietet. Und der bietet an, was wir ihm an Nahrung anbieten.

Nahrung, Ernährung

Was wird da nicht alles zusammenfantasiert, wenn es um „gesunde“ Ernährung geht. Bald soll sie kohlenhydratreich sein, bald kohlenhydratarm oder besonders eiweiß- oder lieber fettreich, oder gerade nicht. Vor allem alles „Künstliche“ sei zu vermeiden, stattdessen reichlich Vitamine und Schlackenstoffe. Oder eher nicht. Dabei ist die Grundregel für eine gesunde Ernährung ganz einfach: vielseitig und wenig! Doch mit Wenig ist unser Gehirn selten zufrieden. Vielmehr fordert es: „Iss doch noch was! Guck mal, wie lecker das dort aussieht! Und wie es riecht! Schmeckt es nicht köstlich?“ Wir sprechen von Appetit oder, wenn er groß ist, von Hunger. Würde der Hunger-Ruf fehlen, wären wir längst verhungert. Für das Hungergefühl sorgen ganz verschiedene Botenstoffe. Sie werden je nach Art im Fettgewebe oder in der Magen- und Darmschleimhaut gebildet, in der Bauchspeicheldrüse, der Leber, der Nebennierenrinde und im Knochenmark. Auch in speziellen Nervenzellen des Gehirns. Für das Hunger- und Sättigungsgefühl sorgen vor allem die Gewebshormone Leptin und Ghrelin, aber auch Cortisol, Insulin und Glukagon. Spezielle Neurotransmitter des Gehirns wirken als chemische Signale, die uns glücklich machen oder unglücklich. Unglücklich bei ungestilltem Appetit, und glücklich bei dessen Besänftigung. Den Tieren geht das genauso. Die wissen ja nicht, dass sie ohne Fressen stürben und sind gänzlich auf diese Leitmechanismen angewiesen, die auch uns Menschen steuern.
Wenn wir dann genug gegessen haben, sind wir satt. Zumindest sollten wir es sein. Oft aber geht es mit den Lockungen weiter: „Na, gehab‘ dich nicht so!“, heißt es dann im Zwiegespräch im Inneren unseres Schädels auf der Vernunft- und der Lustebene. „Noch ein Stückchen von der Geburtstagstorte, das kann doch nicht schaden! Oder etwas vom Grill, nur ein winziges Bisschen?“ Und dann: „Herrlich wie das schmeckt! Warum nicht etwas mehr? Morgen, da isst du nichts. Jawoll!“ Und am nächsten Tag – nun gut, man kennt es. Aber nicht alle kennen es, die Menschen sind halt verschieden. Vor ein paar tausend Jahren, in der Steinzeit (biologisch gesehen sind wir noch immer Steinzeitmenschen), war es höchst zweckmäßig, sich den Ranzen ordentlich vollzustopfen. Denn wehe, wenn die Hungerzeit zurückkehrte und man durch Fettansatz nicht genug vorgesorgt hatte! Zumindest in unseren Breiten war das so. Anders in Regionen, in denen es jahrein, jahraus genug an Nahrung gab, z. B. Großwild in den Savannengebieten Afrikas. Da hieß es, als Jäger behände zu sein und sich durch übermäßiges Körperfett nicht zu behindern. Beneidenswert schlank ist der Typus dort. Von seiner Anlage her.
Schlank waren in unseren Gefilden die Menschen der Steinzeit sicher auch. Nur eben nicht so sehr von der Anlage her, weit eher aus Mangel. Selbst wenn es einmal genügend an Samen, Früchten, Blättern und Wurzeln gegeben haben sollte, oder an Fisch, gar an Fleisch, dann schmeckte das Ganze bei weitem nicht so gut, wie es uns heute schmeckt. Was nicht alles haben die Züchtung und die Koch- und Backkultur inzwischen entwickelt. Ganze Industrien bildeten sich heraus, um das Sättigungsgefühl, unsere natürliche Fressbremse durch kaum noch zu überbietenden Wohlgeschmack zu übertölpeln. Den Erfolg sieht man allenthalben, sowohl auf der Straße als auch auf den Warteflächen der Arztpraxen. Und in den Krankenhäusern.
Warum, so fragen wir uns, erwischt es die einen, die anderen hingegen sind gefeit? Das ist Gegenstand intensiver Forschung. Bisher gibt es nur Teilantworten. Die individuelle Veranlagung spielt eine herausragende Rolle, gewiss auch erlernte Fehlhaltungen und die Befähigung zur Selbstdisziplin. Letztere wiederum ist zum Teil Sache der Veranlagung. Zum Teil! Also nicht einfach sagen: Nicht ich bin schuld, sondern meine Gene sind es.
Zurück zum Anfang, wo es hieß, das Gehirn isst mit. Haben Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, schon mal das Umgekehrte versucht, nämlich Gehirn mitzuessen? In der Leberwurst war früher reichlich Gehirn enthalten, und in anderen Ländern liegt beim Metzger auch heute noch Gehirn auf der Ladentafel, Gehirn vom Schwein, vom Rind oder Schaf. In Scheiben geschnitten und paniert, gilt es manchen als Delikatesse. Als Kind war ich mitunter zum Schmause geladen. Geschmeckt hatte es mir nicht. Aber gestaunt habe ich, wie weich und klebrig sich die Hirnmasse anfühlte. Damals meinte ich, dass das, was wir da oben im Kopf mit uns herumtragen, von ganz anderer Konsistenz sein müsse. Eben weil es menschliches Gehirn ist, und das könne ja denken. Irrtum: Menschliches Gehirn fühlt sich genauso an. Obschon es die höchst entwickelte Materie ist, von der wir wissen! Prof. Dr. Gerald Wolf

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