Chemie und Physik abgewählt – na und?

Wenn heute ein Schüler eines Gymnasiums in Deutschland die Hochschulreife anstrebt, kann sie oder er je nach Bundesland ein oder zwei naturwissenschaftliche Unterrichtsfächer abwählen. Solche Großzügigkeiten haben zur Folge, dass für viele Studienanfänger der Wechsel vom Gymnasium zur Universität alles andere als „easy“ ist. Der Präsident der Hochschulrektorenkonferenz Peter-André Alt hat es vor Kurzem auf den Punkt gebracht: "Es gibt gravierende Mängel, was die Studierfähigkeit zahlreicher Abiturienten angeht. Wir leben in der Fiktion, dass mit dem Abitur die Voraussetzungen für das Studium erfüllt sind (FAZ, 08.06.2919)." In ähnlicher Weise haben sich Mathematikprofessoren der TU Chemnitz in einem Brandbrief geäußert (Freie Presse, „Der Kampf um das kleine Einmaleins“, 22.02.2018).

Mit Brückenkursen versuchen die Hochschulen und Universitäten fehlende Grundlagenkenntnisse nachzubessern. Volker Ladenthin, renommierter Erziehungswissenschaftler an der Universität Bonn schreibt dazu: „Zwischen dem Abitur und der Universität ist eine neue Schulart entstanden – die das nachholt oder überhaupt erst thematisiert, was in den Lehrplänen steht“ (Forschung & Lehre, „Da läuft etwas ganz schief“, 06.08.2018). Nach Ladenthin haben bei den heutigen Studenten zusätzlich Frustrationstoleranz, Kritikverarbeitung und Neugier abgenommen. Er schreibt dazu: „Auffällig ist eine deutliche Zunahme an Anträgen zur Einsicht in Prüfungsunterlagen: Korrektururteile wie "falsch" oder "unvollständig" werden als Zumutung empfunden – wie überhaupt eine geringe Frustrationstoleranz zu beobachten ist. Viele Studierende haben keine Fragen, Ihnen ist kaum etwas ein Problem". Man kann nun solche Einschätzungen einfach damit abtun, dass sich ja die Alten schon immer über den Leis-tungsverfall bei den Jungen beklagt haben. Dem ist aber nicht so, denn mit den sogenannten Hochschuleingangstesten lässt sich belegen, dass die Hochschulreife seit Jahren abnimmt.

Desinteresse an Naturwissenschaften
Naturwissenschaftliche Bildung wird geringgeschätzt. Gefragt nach den für die Allgemeinbildung wichtigen Fächern gaben Schüler (und unter Lehrern) als Antwort: Deutsch, Englisch, Geschichte, Mathematik an. Mit Chemie und Physik als Schlusslichter kann es kaum verwundern, dass Verschwörungstheorien immer häufiger geglaubt werden, das innovative Potential von Chemie/Gentechnik verkannt wird, das Lager der Homöopathie-Jünger oder Impfgegner wächst und gefühlte Wahrheiten den unstrittigen Fakten vorgezogen werden. Mit der Ablehnung von Chemie, Physik und Gentechnik werden aber auch die Weichen für das geistig-kulturelle und industrielle Abseits eines Landes gestellt. Denn es ist doch eine Binsenweisheit, dass die Zukunft eines Landes von seinem industriellen Entwicklungsstand bestimmt wird, und dieser wiederum von der Pflege und Wertschätzung seines Bildungssystems und seiner wissenschaftlichen Einrichtungen. Vielleicht war Walter Ulbricht auch schon zu dieser Einsicht gelangt, als er in den Sechzigern für ein „Überholen ohne einzuholen“ geworben hat?

Einst die Apotheke der Welt
An dieser Stelle lohnt ein rückwärtsgewandter Blick. Nach der Reichsgründung (1871) wurden im kaiserlichen Deutschland die klassischen humboldtschen Bildungsideale durch naturwissenschaftliche ergänzt. Die einsetzende Industrialisierung brauchte Ingenieure und Naturwissenschaftler. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten wurde Deutschland zum führenden europäischen Industrieland mit einer breit aufgestellten chemischen Industrie. Es wurde zur Wiege der modernen Physik und galt als die Apotheke der Welt. Mit der Herstellung von Ammoniak aus Luft(stickstoff) gelang es, den Düngemittelmangel in der Landwirtschaft zu überwinden. Großzügige Förderung der Universitäten und Forschungseinrichtungen machten Berlin, München und Göttingen innerhalb weniger Jahrzehnte zu Zentren der Physik, Chemie und Medizin. Deutschland erhielt bis 1939 36 Nobelpreise für Chemie, Physik und Medizin/Physiologie (das sind 35% der für diese Disziplinen vergebenen Nobelpreise). Nach dem Ersten Weltkrieg ändert sich alles. Von nun an wurden die Vereinigten Staaten der Sehnsuchtsort vieler europäischer Forscher.

Bildung als Spielwiese der Politik
Eine Vielzahl von Atombombentests in den Fünfzigern und das Tschernobyl-Desaster verschafften der Physik ein Negativimage. Der Chemie erging es ähnlich nach Chemie-Katastrophen, wie im italienischen Seveso (1976) und dem indischen Bhopbal (1984) geschehen. Obwohl diese Umweltsünden menschengemacht waren, begegnete man fortan den Naturwissenschaften mit Mißtrauen. Dabei gerieten deren Verdienste für unser heutiges komfortables Dasein und die stetig wachsende Lebenserwartung vollständig in Vergessenheit. Wer Chemie ablehnt, übersieht, dass diese seit der Antike von den Menschen angewandt wird und Krankheiten die Folge einer gestörten Körperchemie sind. Deshalb müssen Krankheiten in den allermeisten Fällen auch mit Chemie behandelt werden. Und obwohl es bis heute keinerlei Anlass dafür gibt, und 227 Arzneimittel mit gentechnisch hergestellten Wirkstoffen in Deutschland zugelassen sind (Stand: 11.07.2018), besteht eine verbreitete Skepsis in der Gesellschaft gegenüber dem Leistungsvermögen und der Nützlichkeit von Gentechnik.

Die Wertschätzung der Naturwissenschaften wird  aber auch durch öffentlich zur Schau gestellte Lücken im Allgemeinwissen von Spitzenpolitikern beschädigt. Der ehemalige Außenminister Guido Westerwelle verstieg sich im ARD Morgenmagazin zu der Bemerkung: „Das Sinnloseste, was ich je gelernt habe, war der Zitronensäurezyklus. Ich weiß nicht, was das ist.“ Ihm war dabei offenbar entgangen, dass dieser Zyklus so etwas wie der „Blutkreislauf“ der pflanzlichen und tierischen Zellen ist. Oder wie die Grünen-Chefin Annalena Baerbock beim diesjährigen ARD-Sommerinterview gefordert hat, schnellstmöglich das „Kobold-Problem“ bei den Elektroautos zu lösen. Es sind nun wirklich nicht die kleinen, Schabernack treibenden Männchen, die das Umweltproblem der kobalthaltigen Batterien verursachen.

Naturforscher genossen im 19. Jahrhundert hohe Wertschätzung und ihr Schaffen umwehte auch die Aura des Besonderen. Obwohl ihr Experimentieren in der Regel in abgeschiedenen Privatlaboren stattfand, wurden die Forschungsergebnisse breitenwirksam popularisiert. Einige, wie der englische Naturforscher Michael Faraday oder der Chemiker Justus von Liebig, verstanden dies meisterlich. Heute dagegen ist das öffentliche Interesse an der Forschung, gelinde gesagt, gedämpft. Ursachen dafür sind die Massenuniversitäten, der inflationäre Gebrauch des Forschungsbegriffs („Forschungsgruppen“ in den Kita´s), nichteingetretene Vorhersagen („Der Krebs ist bald besiegt.“, „Mit der Kernfusion sind alle Energieprobleme gelöst.“) und die schon erwähnten Umweltsünden. Statt einer Begeisterung für die innovativen Möglichkeiten der Naturwissenschaften werden deren nutzbringende Möglichkeiten verkannt. Diese Entwicklung hat aber auch noch einen anderen Grund. Trotz der unbestreitbaren Tatsache, dass in den industrialisierten Ländern die Lebensmittelqualität und der Gesundheitszustand der Bevölkerung nie besser war als heute, hat sich eine gefühlte Verängstigung breit gemacht, wonach unsere Gesundheit durch vielfältigste Bedrohungen gefährdet ist.

Die Geringschätzung naturwissenschaftlicher Fächer ist auch das Ergebnis einer zur Spielwiese verkommenen Bildungspolitik, die zum Ansehensverlust der Lehrenden und zum Lehrermangel beigetragen hat. Zusätzlich werden Lehrer mit der häuslichen Mangel-Erziehung konfrontiert und sind einem „Sperrfeuer“ von „Helikopter-Eltern“ ausgesetzt. Letztere fechten immer häufiger unliebsame Schulbescheide, schlechte Noten, Bewertungen und pädagogische Maßnahmen an. Da muss bei einem Lehrer die Muse auf der Strecke bleiben, die Neugier der Schüler darauf zu lenken, was die Welt zusammenhält. Beim Schreiben dieser Zeilen erinnere ich mich an ein Gespräch mit einem Chemielehrer aus Niedersachsen. Der wollte seinen Schülern einen Geruch vorstellen, worauf einer von diesen sagte: „Wenn Sie mir mit dem Reagenzglas zu nahe kommen, zeige ich Sie an!“ Es wird aber auch mit Recht kritisiert, dass die Inhalte der MINT-Fächer zu alltagsfern und theoretisch sind, weil diese zu sehr an Definitionen und Gleichungen festgemacht werden. Wer als Lehrer Grundlagen mit Tiefenwirkung vermitteln will, der sollte natürlich auch für diese Fächer „brennen“.

Was ist in Finnland anders?
Finnland gilt gemeinhin als das Land mit einem hoch entwickelten und effizienten Schulwesen. Dort haben Schüler gute Leistungen, und das ohne den an asiatischen Schulen üblichen Drill. Eine Chance Lehrer zu werden erfordert ein hervorragendes Abitur und man muss sich einem aufwendigen Auswahlverfahren stellen. Trotz dieser Hürden und der Aussicht auf geringe Bezahlung ist das Interesse junger Leute an einem Studienplatz sehr groß (etwa 10 Bewerber pro Studienplatz). Was macht dann den Beruf so attraktiv? Es ist das hohe wissenschaftliche Ausbildungsniveau und Ansehen der Lehrer in der finnischen Gesellschaft (Die Zeit, Nr. 37/2013). Grundsätzlich gilt in Finnland, dass in den Anforderungen bei der Lehrerausbildung keine Unterschiede zu anderen, also auch MINT-Fachrichtungen gemacht werden. Dadurch wird der Absolvent befähigt, fundierte Entscheidungen zu treffen. Eltern vertrauen auf die richtige Behandlung ihrer Kinder durch den Lehrer. Ein finnischer Lehrer würde seinen Beruf aufgeben, wenn seine Autonomie im Klassenzimmer und in der Schule eingeschränkt wird. Deshalb haben dort, im Unterschied zu Deutschland, Auseinandersetzungen mit respektlosen Eltern Seltenheitswert.

Ein Resümee
Wie soll eine Gesellschaft, deren Bevölkerung zunehmend skeptisch den Naturwissenschaften gegenübersteht, sich mit den asiatischen Tigerstaaten messen können? Vor wenigen Jahren noch selten, drängen heute chinesische Forscher immer häufiger mit ihren gewichtigen Resultaten in die renommierten wissenschaftlichen Journale. In einem Beitrag der Süddeutschen Zeitung (6./7.Juli 2019, Nr. 154) war unlängst zu lesen: „Junge Deutsche fühlen sich weltgewandt und international. Dabei nehmen sie gar nicht wahr, dass sie gerade von ehrgeizigen Altersgenossen in Asien abgehängt werden. Schlimmer noch: Viele haben noch nicht begriffen, dass sie sich überhaupt im Wettlauf um die Zukunft befinden. Wenn ich sehe (die China-Korrespondentin), wie groß der Wille in anderen Ländern ist, das eigene Leben zu verbessern, frage ich mich, woher wir in Deutschland die Zuversicht nehmen, dass unser Leben so bleibt wie es ist.“ Prof. Dr. rer. nat. habil. Peter Schönfeld

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