Autosuggestion von Medienmacht

Gemeinhin werden Medien als „Vierte Gewalt“ im Staate bezeichnet, obwohl das Staatsrecht eigentlich nur Legislative, Exekutive und Judikative kennt. Aus der historischen Tatsache, dass Berichterstattung und öffentliche Diskussionen das politische Geschehen beeinflussen können, bildete sich die Vorstellung über eine publikative Gewalt heraus. Doch die Welt ist in Bewegung und die so genannte „Vierte Macht“, in der sich Presse und Rundfunk begriffen, bröckelt.
Am Schwund dieses medialen Selbstverständnisses ist gar nicht die vielfache Kritik während der wachsenden Zuwanderung und Flüchtlingsströme seit 2015 verantwortlich, sondern vielmehr Vergesellschaftung von informeller Interaktion durch das Internet. Eine öffentliche Presse hatte sich mit der Proklamation von Meinungsfreiheit zur französischen Revolution erst nach und nach herausgebildet. Moderne Druckverfahren, die eine schnelle, massenhafte Produktion von Zeitungen ermöglichten, verbreiteten Informationen in einer völlig neuen Art und Weise.
Dass Worte mächtig sein konnten, wurde dadurch erst gesellschaftlich omnipräsent. Seither wuchs auch das Interesse für die Einflussnahme auf Medien. Einen weiteren Schwung erreichte die Informationsverbreitungsmacht durch das Radio und später das Fernsehen. Doch das Internetzeitalter löst die klassische Nachrichten- und Meinungsberieselung auf. Vor dem Internet waren Kritik und Interventionen gegen Berichterstattung schwierig und erforderten einige Anstrengung. Protestbriefe konnten erhört werden und wenn nicht, blieb nur der Gerichtsweg. Doch selbst die Rechtssprechung stärkte häufig der medialen Darstellung unter der Lex Meinungsfreiheit den ohnehin bärenstarken Rücken. Mit den Möglichkeiten des Internets, insbesondere der millionenfachen Nutzung sozialer Medien, schwindet die Veröffentlichungs- und Meinungsmacht klassischer Kanäle. Der „Vierten Gewalt“ steht jetzt die Öffentlichkeit gegenüber. Das muss man als Fortschritt für Gerechtigkeit begreifen.
2016 zählte die Statistik rund 36.000 festangestellte Journalisten und etwa 77.000 freie in Deutschland. 113.000 Inhaltserzeuger sollen also bestimmen, was wichtige Geschehen und berichtenswerte Nachrichten sind. Wir haben 378.600 Ärzte, ca. 1,9 Millionen Beamte, weit über 200.000 Wissenschaftler und schätzungsweise 100.000 politische Mandatsträger in Deutschland. In den meis-ten Branchen gibt es viel mehr Akteure als Medienleute. Trotzdem hält man die relativ kleine Kaste für übermächtig. Und obwohl die personelle Macht der Presse offenbar Grenzen hat und die Mitarbeiterzahlen in gut bezahlten Verlagen bzw. Rundfunkanstalten sinken, ist deren Informationsverbreitungspotenzial dennoch immens hoch. Es baut auf das historische Fundament von Nachrichten- und Meinungsverbreitung. So wichtig die Berichterstattung über viele Ereignisse sein mag, die Hoheit über einen Wahrheitsanspruch löst sich mit der Einmischung zahlreich anderer Inhaltserzeuger im Internet mehr und mehr auf.
Es ist also nicht verwunderlich, dass Nachrichten, Berichte und Kommentare klassischer Medien konterkariert oder paralysiert werden. Die Interaktion des Internets macht es möglich. Das Selbstverständnis über Macht und die autosuggerierte Stellung einer „Vierten Gewalt“ verliert unter dieser Dynamik an Bedeutung. Heute kann quasi jeder sein persönliches Sendungsbewusstsein ausleben und unter Leute bringen. Der Wettbewerb von Informationsverbreitung entscheidet sich seltener am Inhalt als an der Zahl der erreichten Personen.
Trotzdem muss Journalismus nicht in der Bedeutungslosigkeit verschwinden. Denn Inhalte zu erzeugen, beschränkt sich eben nicht auf 140 Zeichendienste, Gegenkommentierungen bzw. einseitige Meinungsmache gegen alles und jeden. Heute geht es mehr denn je darum, authentisch zu berichten, Zusammenhänge aufzuzeigen, Hintergründe sichtbar und Spezialwissen verständlich zu machen, Menschen und ihre Ideen, die Ergebnisse ihres Tuns und die Folgen von Entwicklungen aufzugreifen, Quellen und Ursachen zu recherchieren und hervorzuheben. Solche Tätigkeiten sind selten vom Schreibtisch zu Hause oder von der Couch aus umfassend und wahrhaftig zu lösen.
Über die Zeit ihres Bestehens haben Medien und deren Vertreter offenbar eine Art Selbstverständnis über eine alleinige Vertretungsmacht zu gesellschaftlichen Welterklärungen entwickelt. Politiker, Manager müssen sich permanent am öffentlichen Pranger sehen, Medienkonsumenten fühlen sich häufig über ihre Meinungen gemaßregelt. Solche Wahrnehmungen wurden in der Vergangenheit ohne Gegenöffentlichkeit im Internet selten spürbar. Jetzt aber schon. Deshalb muss Journalismus unbedingt eine Art und Weise einer Meinungs- und Informationsvermittlung ablegen, die gegenüber Lesern, Hörern oder Zuschauern wie ein vorschnelles und einseitiges Bewerten von Ereignissen oder Äußerungen von Menschen klingt. Meinungskategorisierung führt nur zu Irritationen. Unter demselben Mechanismus steht aber auch die Seite erklärter Mediengegner, die im Grunde nur dieselben Mechanismen mit umgekehrtem Meinungsbild erzeugen.
Dies zu überwinden, ist die eigentliche Transformationsnotwendigkeit von öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Presseangeboten. Nur auf diese Weise werden sich Journalisten als Berufsgruppe in einer mehr und mehr gleichberechtigten Informationswelt millionenfach Beteiligter glaubwürdig und existenzberechtigend behaupten können. Suggestion und Autosuggestion, dass Medien einzig ein Instrument der Macht seien, wird dereinst nur noch in Geschichtsbüchern stehen. Thomas Wischnewski

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