Auf Adlerschwingen in das Bahnzeitalter

Der Leipziger Bahnhof an der Fürstenwallstraße um 1850.

Mit der Diagnose „Delirium Furiosum“ versuchten die ersten Gegner des Fortschritts den Siegeszug der Eisenbahn zu stoppen. Anlässlich der Eröffnung der ersten deutschen Bahnverbindung am 7. Dezember 1835 zwischen Nürnberg und Fürth warnte angeblich das bayerische Obermedizinalkollegium: „Ortsveränderungen mittels irgendeiner Art von Dampfmaschinen sollten im Interesse der öffentlichen Gesundheit verboten sein. Die raschen Bewegungen können nicht verfehlen, bei den Passagieren die geistige Unruhe, ,delirium furiosum‘ genannt, hervorzurufen. Selbst zugegeben, dass Reisende sich freiwillig der Gefahr aussetzen, muss der Staat wenigstens die Zuschauer beschützen, denn der Anblick einer Lokomotive, die in voller Schnelligkeit dahinrast, genügt, diese schreckliche Krankheit zu erzeugen“. Doch die Bahn war nicht mehr aufzuhalten.

Bereits einige Jahre vor der Eröffnung der ersten deutschen Eisenbahn gab es auch in Mitteldeutschland Bestrebungen zum Eisenbahnbau. Die Ursachen dafür lagen in dem Wunsch der Kaufleute der Messestadt Leipzig, eine Anbindung an ein gut funktionierendes Wasserstraßennetz zu erhalten. Für Magdeburg und die Städte seiner Umgebung bestand allerdings kein Anlass, nach neuen Verkehrsmitteln Ausschau zu halten und für den Eisenbahnbau einzutreten. Immerhin hatte man den Anschluss an die Chausseen und die Elbe. Bedeutungsvoll wurden für Magdeburg die Pläne der Leipziger Kaufmannschaft zum Eisenbahnbau. Magdeburgs Entwicklung war seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts bis um 1800 durch den Leipziger Stapelzwang beeinträchtigt. Durch die abseitige Lage zum Binnenwasserstraßennetz lief die Messestadt Gefahr, ihre bisherige Bedeutung mit Magdeburg teilen zu müssen. Immerhin wurden um 1840 in Magdeburg pro Jahr elbaufwärts kommend rund 80.000 Tonnen Waren umgeschlagen. Das war mehr als die Hälfte der in Hamburg stromaufwärts verschifften Güter. Leipzig versuchte nun seinen Lagenachteil wettzumachen und Magdeburg als wichtigen Umschlagplatz in seine Handelspolitik einzubeziehen.

1829 schlug die Stadt Halle den Bau einer Eisenbahnstrecke nach Leipzig vor, wobei sich die Stadt als Umschlagplatz an der Saale empfahl. Die Leipziger Kaufmannschaft lehnte das Angebot Halles allerdings ab. Man war von Anfang an bestrebt, die Verbindung zum Wasserstraßennetz in Magdeburg zu gewinnen. Doch die hier ansässigen Kaufleute lehnten anfänglich das „Ansinnen“ der Leipziger zum Bau einer Eisenbahnstrecke zwischen beiden Städten ab. Sie waren der Meinung, dass der Streckenbau nur der Leipziger Konkurrenz zugutekommen könne. Selbst bei einer positiven Einstellung der Magdeburger zu dem Leipziger Plan hätte der Beginn des Bahnbaus noch Jahre auf sich warten lassen, da die Bahn grenzüberschreitend gewesen wäre und in Preußen erst die juristischen Voraussetzungen im Gewerbe- und Verkehrsrecht geschaffen werden mussten.

Nach der Ablehnung Magdeburgs zum Streckenbau am Ende der 1820er Jahre ruhten die Planungen, ehe sie von Leipzig erneut und erfolgreicher zur Sprache gebracht wurden. Nicht unwesentlich dafür war das Auftreten von Friedrich List, der in Leipzig dafür zu werben begann. Der deutsche Eisenbahnpionier prognostizierte, dass sich Leipzigs „Bevölkerung, Gebäudezahl, Gewerbs-Industrie, Handel und Grundstücke“ mit Anbindung an die Bahn „in kurzer Zeit verdoppeln würde“.

Die Lokomotive Adler.

Die Magdeburger standen zu Beginn der 30er Jahre nach wie vor dem Bau einer Strecke zwischen Leipzig und Magdeburg abweisend gegenüber. Die Situation Anfang der 1830er Jahre kolportierten Zeitungen: „Der Verkehr pochte an das Tor und forderte Einlass“, die Magdeburger waren jedoch noch nicht gewillt, ihm die Pforten zu öffnen. Die Leipziger, die im April 1834 ein Eisenbahnkomitee gebildet hatten, luden dazu den Magdeburger Oberbürgermeister August Wilhelm Francke (1785-1851), einen versierten Kommunalpolitiker seiner Zeit, als Ehrenmitglied ein. Francke nahm die angetragene Ehrenmitgliedschaft an. Er war der geeignete Mann, die Konsequenzen, die der Eisenbahnbau erwarten ließ, zu erkennen und die hellhöriger werdende Magdeburger Kaufmannschaft für den Bau einer Eisenbahnstrecke zwischen Magdeburg und Leipzig zu gewinnen. Ihre Vorurteile gegen die Bahn waren nicht unbegründet: Es war in dieser Zeit nicht abzusehen, dass die Eisenbahn jemals einen solchen Siegeszug feiert. Die Elbestadt verfügte über eine sehr gute Verkehrsanbindung, war man nicht gezwungen, ein Risiko einzugehen. Die Kaufleute nicht kurzsichtig.

Die Einsicht, dass traditionelle Verkehrswege, allen voran die für Magdeburg bedeutende Elbschifffahrt, an Bedeutung zu verlieren schienen und dass ein Festhalten an selbigen dem Handel schädlich wäre, brachte den Stimmungsumschwung der Magdeburger Kaufmannschaft. Hohe Elbzölle und der schlechte Zustand des Flussbettes und das im Sommer vorherrschende Niedrigwasser beeinträchtigten den Schiffsverkehr enorm und bereiteten den Händlern große Sorgen. Außerdem zeichnete sich Anfang der 1830er Jahre ab, dass sich der Handel mit ausländischen Waren rückläufig entwickelte, wogegen der innerdeutsche Handel wuchs. Alle diese Tendenzen kamen dem Landtransport zugute, der durch die Eisenbahn eine Begünstigung erlangen würde.

Am 13. Juni 1835 wurde Francke mit einer Eingabe zum Bau einer Dampfeisenbahnstrecke von Magdeburg nach Leipzig bei der preußischen Regierung vorstellig, in der folgende Aussage getroffen wird: „Es erscheint als eine für die Stadt Magdeburg und ihren Handelsstand unerlässliche Notwendigkeit, sich durch eine schleunige Anlegung einer Eisenbahn nach Leipzig sowohl ihre Teilnahme am Eisenbahnverkehr, der sich zweifelsohne bald über das nördliche Deutschland erstrecken wird, als auch überhaupt ihre Teilnahme an dem Großhandel sicher zu stellen, welcher bald nicht mehr durch ihre Lage an der Elbe gesichert sein möchte“. Am 29. Juni 1835 gründete sich das Magdeburger Eisenbahnkomitee und es setzte eine von Magdeburg ausgehende Planung von Eisenbahnstrecken ein. Von nun an bemühte sich das Eisenbahnkomitee und die Kaufmannschaft, das Projekt schnellstmöglich zu verwirklichen. Doch hatte man das ehrgeizige Unterfangen ohne den schon damals wiehernden Amtsschimmel geplant. Die preußischen Behörden setzten alles daran, das Projekt zu behindern. Erst im Februar 1836 wurde der Bau der Eisenbahn mit Auflagen bewilligt. Erst musste eine Aktiengesellschaft für den Bau einer Eisenbahn von Magdeburg über Halle nach Leipzig gegründet werden. Mit der anschließenden Gründung der „Magdeburg-Halle-Leipziger Eisenbahn-Gesellschaft“ begannen erneut langwierige Verhandlungen über die Bestätigung des Statuts und Bedingungen der Konzessionserteilung, die erst am 13. November 1837, also über ein Jahr später, erfolgte.

Und es gab noch einen weiteren Zankapfel:  Entweder verband die Strecke Magdeburg, Halle und Leipzig miteinander, oder es wurde eine direkte Verbindung von Magdeburg und Leipzig unter Ausschluss von Halle geschaffen, die etwa dem alten Poststraßenverlauf entsprochen hätte. Favorisiert von den Magdeburgern wurde die direkte Verbindung. Man betonte dabei aber stets, dass dies nicht geschehen sollte, um die Hallenser Kaufleute zu schädigen. Vor allem die Umgehung des Petersberges bei Halle sei wegen der Steigungen äußerst problematisch und kostenintensiv. Außerdem wäre eine direkte Verbindung 1,75 Meilen kürzer als die Strecke über Halle. Vielmehr sollte eine von Brehna ausmündende Zweigbahn nach Halle führen. Vor allem der Einspruch von Halle, vertreten durch den Oberbürgermeister Friedrich Wucherer, führte dazu, dass die annähernd geradlinige Verbindung der Handelszentren Magdeburg und Leipzig nach Halle „abgelenkt“ wurde. Die Auseinandersetzungen darüber, die eine oder die andere Trasse zur Ausführung zu bringen, erstreckten sich über die Zeitpunkte der Antragstellung und Konzessionierung hinaus. Die preußische Regierung beharrte jedoch darauf, die einmal genehmigte Führung der Strecke über Halle nicht zu verändern und entschied letztlich zu Ungunsten der Magdeburger.

Bereits am 6. November 1835, also lange Zeit vor dem Baubeginn, wurde ein Messpfahl für die erste Magdeburger Eisenbahnlinie im Friedrich-Wilhelm-Garten, unweit des dortigen Wirtschaftsgebäudes, feierlich eingeschlagen. Obwohl die Genehmigung zum Eisenbahnbau noch nicht vorlag, begannen die Bauarbeiten am 17. April 1838 –  fast drei Jahre, nachdem man das Projekt in Angriff nahm. Diese wurde dann an verschiedenen Stellen gleichzeitig durchgeführt und sollte letztlich, amtlichen Mitteilungen zufolge, etwa 2,8 Millionen Taler kosten. Die Schienen kamen, wie auch die ersten Lokomotiven und Waggons, aus England.

Den ersten Fahrplan bekamen die Ehrengäste der Jungfernfahrt auf der Strecke Magdeburg-Schönebeck am 29. Juni 1839 als Leinentuch überreicht. Foto: Stadtarchiv Magdeburg

Am 29. Juni 1839 war es dann soweit: Der  erste Teilabschnitt der ältesten preußischen Eisenbahnfernstrecke „an dem dazu ausersehenen Geburtstage Sr. königl. Hoheit, des Prinzen Carl“ wurde mit einer feierlichen Einweihungsfahrt in Betrieb genommen. Die „Magdeburgische Zeitung“ berichtet ausführlich von der Einweihung in ihrer Ausgabe vom I. Juli 1839: „Um 8 ¼ Uhr Vormittags setzte sich, unter Musik-Bekleidung, der aus 13 Wagen bestehende, festlich geschmückte Zug von dem Abfahrtspunkte bey Bastion Cleve aus, geführt von der Lokomotive „Adler“, in Bewegung und langte etwa 25 Minuten später, nach einer glücklichen Fahrt auf dem Bahnhofe bey Schönebeck an“. Natürlich ließ sich dieses Spektakel die damalige Stadtprominenz nicht entgehen. An der Jungfernfahrt nahmen Vertreter der Eisenbahngesellschaft, die königlichen und städtischen Zivilbehörden, hochrangige Militärvertreter der Magdeburger Garnison, die ältesten der Kaufmannschaft und viele geladene Gäste mehr teil. Am 30. Juni 1839 nahm der öffentliche Personenverkehr fahrplanmäßige seinen Betrieb auf.

Von nun an fuhr die Bahn sechs mal täglich den Streckenabschnitt. Die Lokomotiven „Adler“ und „Jungfrau“ wechselten sich dabei ab, die nun 16 Wagen zu ziehen. Die Fahrgäste reisten zunächst in drei Klassen, wobei die Wagen der beiden ers-ten Klassen verdeckt und mit verglasten Fenstern versehenen waren, die dritte Klasse hingegen bestand aus unverdeckten Wagen. Dadurch waren die Reisenden dieser Klasse nicht nur dem Wetter, sondern auch dem Funkenflug aus der Lokomotive ausgesetzt. Die Fahrten waren dabei abenteuerlich: Auf heutige Standards wie Toiletten oder Heizung mussten die Bahnfahrer aller Klassen in den ersten Jahren verzichten. Jedem Fahrgast standen 30 Pfund Freigepäck zu, das, wenn dabei keine Mitreisenden belästigt würden, unter dem Sitz verstaut, oder, mit Namen und Bestimmungsort versehen, im Gepäckwagen untergebracht werden konnte. Das Mitführen von Hunden war untersagt und Tabak durfte lediglich in der dritten Klasse geraucht werden. Das tat der Neugier und der Begeisterung für die Eisenbahn jedoch keinen Abbruch. Trotz schlechten Wetters fuhren bereits 2.190 Personen am ersten Tag mit dem neuen Verkehrsmittel. An einem Sonntag im Juli bei „höchst günstigem Wetter“ waren es sogar 3.725 Fahrgäste. 

Allerdings ging es nicht immer „so gut und glücklich“. Bereits am 8. Juli 1839 wird der erste Unfall in der Magdeburgischen Zeitung vermeldet. Die „Adler“ fuhr in Magdeburg aus Schönebeck kommend gegen den Prellbock, eine „aus Holz und Faschinen bestehende Barrikade“, und stürzte, wie die Zeitung berichtet, darüber hinaus. Menschen kamen nicht zu Schaden. „Es wird dem Publikum versichert, dass Herrn Turner, dem englischen Lokomotivführer, künftig kein Fahrzeug mehr anvertraut werden wird.“

Fuhren anfänglich — vor allem sonntags — bis zu sechs Züge pro Tag und Richtung zwischen Magdeburg und Schönebeck, so pendelte es sich nachdem die Neugierde der Menschen gestillt war, auf drei Züge pro Richtung ein. Das Fahrgastaufkommen belief sich im August 1839 für die kurze Strecke auf 7.000 bis 9.000 Personen pro Woche. Insgesamt wurden 1841 544.782 Fahrgäste befördert. 

Im September 1839 konnte die Strecke dann bis Calbe befahren werden. Die Fertigstellung erfolgte ein Jahr später. Am 18. August 1840 war die Eröffnung der gesamten Strecke bis Leipzig. Ab  November 1840 begann man die als „Zwischenfahrten“ bezeichneten Personenzüge in gemischte Personen-Güterzüge umzuwandeln und damit den Gütertransport auf der Strecke aufzunehmen. Diese Züge führten jedoch nur Reisezugwagen der 3. Klasse. Die fortschreitende Inbetriebnahme der Strecke gestaltete sich zu einem Triumphzug für das neue Verkehrsmittel. Nur zwei Jahre später, im Januar 1843, war die gesamte Strecke zweigleisig ausgebaut. Die 119 Kilometer lange Eisenbahnverbindung zwischen Magdeburg und Leipzig war die zweite große Eisenbahnlinie Mitteleuropas.  Gleichzeitig aber auch die erste „internationale“, das heißt Staatsgrenzen überschreitende Eisenbahn der Welt (Preußen, Anhalt-Köthen, Sachsen).

Der Bau der Eisenbahn war ein Zugewinn für  die Stadt Magdeburg. Binnen kurzer Zeit wuchs die Bahn zum wichtigen und schnellen Transportmittel. Reisende und Güter beförderte man nun innerhalb von zwei Stunden von Magdeburg nach Halle. Eine Postkutsche brauchte dafür mehr als 14 Stunden. Zusammen mit der Leipzig-Dresdener Bahn rückte Magdeburg bis Dresden ran. Für diese 234 Kilometer lange Strecke brauchte man mit allen Aufenthalten nur noch sieben Stunden. Zusätzlich wurde der Personenverkehr deutlich bequemer als zuvor in der Kutsche. Der wirtschaftliche Vorteil für Magdeburg war die Verknüpfung des Schienenverkehrs mit der Elbschifffahrt. Mit der sich parallel zum Eisenbahnbau entwickelnden Dampfschifffahrt erhöhte sich sowohl die Transportfrequenz als auch die Transportgeschwindigkeit auf der Elbe. Ronald Floum


Quellen:
Bernhard Mai - Eisenbahngeschichte im Raum Magdeburg-Schönebeck, Herausgeber Kreisnuseum Schönebeck 1989
Tobias Jantz - Die Anfänge der Eisenbahn in Magdeburg,Studienarbeit Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, 2006

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