Arbeit – eine chronische Erkrankung?

Steigende Fehltage durch psychische Erkrankungen. Wer arbeitet, ist offenbar einem erhöhten Seelendruck ausgesetzt. Vielleicht sind aber eher Sichtweisen über die Arbeitswelt erkrankt.

Bei immer mehr jungen Erwachsenen werden psychische Erkrankungen festgestellt. Allein die Diagnose Depressionen hat um 76 Prozent seit 2005 zugenommen“, so steht es im Arztreport 2018. Als häufigste Diagnosen werden affektive Störungen, insbesondere Depressionen (plus 75 Prozent zu 2005), somatoforme Störungen (körperliche Beschwerden, die sich nicht oder nicht hinreichend auf eine organische Erkrankung zurückführen lassen) und Reaktionen auf schwere Belastungen genannt. In den Analysen über diese  Entwicklung bleibt hängen, dass überall der Stress zunimmt und die Anforderungen an die moderne Arbeitswelt ein noch nie dagewesenes Heer leidender Erwerbstätiger produziert. Ist etwa Arbeit wirklich der Hauptfaktor für eine offenbar an chronischer Verbitterung erkrankten Gesellschaft?

Wollte man den ständigen Predigten über die negativen Auswirkungen im Berufsleben folgen, müsste man quasi zum Schluss kommen, dass die Arbeit wohl selbst die schlimmste Erkrankung ist. Psychische Beeinträchtigungen sollen hier nicht relativert werden. Betroffene machen in der Tat  schwere Leidensphasen durch. Es geht vielmehr darum, das vermittelte Bild und die Interpretationen über berufiche Tätigkeiten näher zu betrachten sowie auf andere Lebenseinflüsse und Veränderungen aufmerksam zu machen.

Ein Blick auf die Statistik wie sich die Jahresarbeitszeiten geändert haben, macht deutlich, dass die Mehrheit der Erwerbstätigen über wachsende Freizeitpotenziale verfügt. So lag die durchschnittliche Jahresarbeitszeit 1960 in Deutschland (West) bei 2.163 Stunden. Zwanzig Jahre später zählte das Bundesamt für Statistik noch 1.739 Stunden. Im Jahr der Deutschen Einheit kamen die Erwerbstätigen im Schnitt auf 1.566 Jahresarbeitsstunden. Im vergangenen Jahr soll die Zahl bei 1.366 Stunden gelegen haben. Innerhalb von sechs Jahrzehnten hat sich die Arbeitszeit also um fast 800 Stunden verkürzt. Wahrscheinlich sind in den Angaben keine unregistrierten Überstunden enthalten, aber immerhin zeigt der Trend deutlich eine geringere zeitliche Belastung. Ein anderes, oft bemühtes Argument für zunehmenden Stress erklärt, dass angeblich mehr Arbeit in kürzerer Zeit geleistet werden müsse. Sicher gibt es solche Erscheinungen. Am Ende sind jedoch die meisten Einwände reine subjektive Wahrnehmungen. Viel verheerender ist eher der Eindruck, der sich durch die permanente Wiederholung über die Schrecken der Arbeit in unseren Köpfen festsetzt. Der Kapitalismus erzeugt nicht nur Armut, Ungleichheit und materialistische Einstellungen. Er macht Menschen außerdem krank. War Anfang des vergangenen Jahrhunders die knochenharte Arbeit Hauptausbeutungsgrund, wird nun die Seele ausgelaugt. Doch wie die sinkende Arbeitsstundenkurve zeigt, kann der Faktor Zeit keine Hauptursache für psychische Beeinträchtigungen sein.

Fraglich ist, warum in vielen Untersuchungen der Fokus vorwiegend auf die Arbeitswelt gelegt wird und nicht Freizeitverhalten und andere Einflüsse untersucht werden. Möglicherweise sind heutige Informationsfluten, denen sich letztlich jeder selbst am Computer oder Smartphone aussetzt, was in einem fort Stress erzeugt, Konzentration und Reaktion abverlangt. Außerdem – das ist mittlerweile anerkannte Erkenntnis – führt eine häufige Nutzung sogenannter Sozialer Medien eher zu Minderwertigkeitsgefühlen und erhört den Druck für eine anhaltende Lebensoptimierung. Das bereitet auf jeden Fall Stress. Und das solche inneren Auseinandersetzungen dann ins Arbeitsleben ausstrahlen, liegt irgendwie auf der Hand. Wurde schon immer darüber geschimpft, wenn Menschen ihren Job nicht loslassen können und Probleme mit nach Hause tragen, so muss heute auch gefragt werden, wie viel privates Verhalten – beispielsweise das dauerhafte Reagieren auf Nachrichten – nehmen Mitarbeiter mit an den Arbeitsplatz. Nicht umsonst gibt es deshalb in vielen Firmen Handyverbote am Arbeitsplatz. In wie vielen anderen lesen Arbeitnehmer unter Stress persönliche Mitteilungen von Freunden und Angehörigen und tippen dann Antworten?

Eine andere Differenz könnte eine schlüssige Erklärung dafür liefern, dass Arbeit als wachsende Belastung empfunden wird. Bildungsfachleute beklagen über die Jahre gesunkende Anforderungen in Schule, Ausbildung und Studium. Gute Noten würden heute viel leichter zu erzielen seien, als noch vor 20 Jahren. Treffen Absolventen dann auf die Anforderungen in Unternehmen oder auf Tätigkeiten, mögen weniger ausgebildete Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit gegenüber einst als normal empfundenen Belastungen heute höher bewertet werden.

Die Einflüsse eines permanenten Modernisierungsdrucks, die Unsicherheit, wie lange eine berufliche Qualifikation zukunftsfest ist, könnten sich heute verstärkt negativ auf Selbstwertgefühle von Menschen auswirken. Täglich kann man Nachrichten und Berichte verfolgen, wie tiefgreifend sich die Arbeitswelt in Kürze wandeln würde. Künstliche Intelligenz, Roboter und vernetzte Maschinen sollen schon bald viele Tätigkeiten, die heute noch von Menschen erledigt werden, ersetzen. Keiner weiß verbindlich, wie es wirklich kommt und in welchen Zeiträumen sich der Wandel vollzieht. Aber Panik wird schon heute überall verbreitet. Beschwörungen, dass neben wegfallenden Jobs viele neue entstehen werden, helfen Menschen, die sich von Nachrichten angesteckt sorgen, kaum weiter. Die heutige vernetzte Welt zeigt vielmehr, dass sie mit der Informationsdichte, der verbreiteten Menge sowie der damit verbundenen Geschwindigkeit wachsende Verarbeitungsschwierigkeiten hat. Ohnehin von Nachrichten verunsicherte Persönlichkeiten rutschen wahrscheinlich weiter in eine Art Konfusionsstrudel.

Zu dieser Orientierungslosigkeit über berufliche Perspektiven gesellen sich außerdem völlig verschrobene Brufsvorbilder. Ob nun Models, Influencer, Musikstars und Heldenspiele – von denen Medien voll sind – als taugliche Vorbilder unter den Augen einer heranwachsenden Generation gesehen werden können, ist mehr als fraglich. Indes mangelt es aufgrund demografischer Effekte mehr und mehr an Fachkräften. Gerade Tätigkeiten in der Pflege, in vielen Dienstleistungsbereichen wie der Gastronomie aber auch im Handwerk oder in der Bauindustrie fehlt es an Leuten und der Bereitschaft von jungen Menschen, sich den Herausforderungen solcher Berufe zu stellen.

Natürlich sind Eltern stolz darauf, wenn ihre Kinder höhere Abschlüsse wie das Abitur schaffen. Der Stolz gründet sich ausschließlich darauf, dass daraus resultierende Perspektiven stets über solide Berufsausbildungen gestellt wurden. Man kann daher leicht mutmaßen, dass eine Befeuerung akademischer Karrieren nicht bei jedem zu einer späteren beruflichen Zufriedenheit führt. Fast 54 Prozent aller Absolventen eines Jahrgangs verfügen heute über eine Studienzugangsberechtigung. Rund 32 Prozent schließen eine akademische Ausbildung erfolgreich ab. Das heißt, da bleiben mindestens 22 Prozent unzufrieden auf der Strecke. Denn selbst der Studienabschluss ist noch lange keine Garantie für ein erfüllendes Berufsleben.

Konstatieren muss man ebenso, dass die Gründungen in Deutschland rückläufig sind. Wurden im Jahr 2001 rund 1,5 Millionen neue Gewerbeanmeldungen registriert, waren es 2017 nur noch etwa 557.000. Das Bild über selbstständige Erwerbstätigkeit ist bei Weitem kein rosarotes. „Selbst und ständig“, verzwickte staatliche Antrags- und Kontrollregularien machen es jungen Unternehmern nicht gerade leicht. Und häufig kassiert der Staat schon Gebühren und Abgaben, wenn ein Gründer oder eine Gründerin noch nicht einen Euro verdienen konnte. Von dem Schwall an Verwaltungsvorschriften, die Arbeit, Sicherheit, Zeiten, Einsatz technischer Mittel etc. sichern sollen, ganz zu schweigen. An Unternehmern klebt heute nicht unbedingt ein positives Etikett. Über Jahrzehnte hat sich das Bild vom bösen Kapitalisten bis zum kleinen Mittelstand heruntergefressen. Schließlich bietet der Kapitalist eine schlimme Ware an. Nämlich Arbeit.

Existenzielle und berufliche Unsicherheit sind heute vielfach verbreitete Szenarien. Und auch da sind es die schnellen und lauten Verbreitungen, die Wirtschaft und Arbeitswelt wahrscheinlich viel fürchterlicher erscheinen lassen, als es tatsächlich um die Bereiche bestellt ist. Die Arbeit wird sich verändern, wie sie sich immer verändert hat. Aber dass sie Hauptursache für psychische Leiden sein soll, ist bestimmt genauso wahrscheinlich wie andere durch Autosuggestion entstandende Phänomene. Sinnstiftende und gesellschaftliche Faktoren von Arbeit, aus der gemeinschaftsprägende und existenzielle Grundlagen resultieren, geraten vor Horrormeldungen über Schrecken der Arbeit ins Hintertreffen. Thomas Wischnewski

Zurück