Anders als die Alten sungen, twittern nun die Jungen

„Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte. Die jungen Leute stehen nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern, schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch die Süßspeisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer.“
Nicht irgendein Griesgram war das, der sich auf diese Art überm Gartenzaun hinweg über die heutige Jugend verbreitet. Auch ist mit „heutzutage“ nicht das Heute von heute gemeint, sondern das von vor zweieinhalb tausend Jahren. Und kein Irgendwer hat das gesagt, nein, Sokrates war das! Auch ist Sokrates kein Griesgram gewesen, gebeugt vom Alter, der den Jugendlichen ihre Jugend missgönnte. Im Gegenteil, immer zu einem guten Gespräch bereit, lebte Sokrates mit und von seinen Schülern, erklärte ihnen, wie er als Philosoph das Leben versteht, wurde von ihnen geachtet, ja hoch verehrt. Und dennoch dieser Pessimismus! Tatsächlich ging es bald darauf mit dem Wohlstand im antiken Athen bergab und das hatte Sokrates aus dem Verhalten der seinerzeitigen „heutigen Jugend“ herausgelesen.
Bei weitem haben nicht alle das Zeug zu einem Sokrates, die so über die „heutige Jugend“ reden. Doch hört man es oft. Auch früher war das so. Über alle Generationen hinweg gibt es eine Neuauflage des uralten Kräftespiels zwischen Alt und Jung, zwischen konservativ und progressiv. Die einen wollen bewahren, was sie für erprobt und bewahrenswert halten, die anderen sind des Alten (und der Alten?) überdrüssig und suchen nach neuen Wegen und Ufern. Wenn mit Erfolg, dann mag damit ein großer Fortschritt verbunden sein. Gesellschaften, denen solches Fortschrittspotenzial abhandenkommt, werden bald abgehängt sein. Gesetzmäßig. Das zeigt die Geschichte der Menschheit, das sagt die Gegenwart, und auch in der Zukunft wird das so sein. Es ist ein Entwicklungsprinzip. In allen möglichen Systemen lässt es sich beobachten, in der Wirtschaft und der Politik, in der Wissenschaft, Technik und Kunst, im Spiel, im Sport. Selbst im Krieg. Auch die biologische Evolution fußt auf diesem Prinzip. Sie, die Evolution, war es, die es „erfunden“ hat.
So ist der Weg vom Griffel über die Gänsefeder und die mechanische Schreibmaschine bis zum heimischen PC und Drucker gewesen, von der Quacksalberei hin zur Molekularmedizin, von der Nachbarschaftshilfe zur Sozialgesetzgebung, von einem archaischen Bakterium zur Stubenfliege oder, auf einem Nachbarzweig, hin zum Menschen.
So weit, so gut. Aber nicht unbedingt gut. Denn das Bisherige ist das jeweils Bewährte, das Neue mag in der einen Hinsicht besser sein, nicht aber in einer anderen. Gefahren können sich mit dem Neuen ergeben. Denken wir an den Segen der Benzodiazepine als Beruhigungsmittel und deren Fluch, wenn sie zur Abhängigkeit führen, an das Pro und Contra der Kernspaltung oder an die Früchte frühsozialistischen Gedankenguts und deren Korrumpierung durch kommunistische Diktaturen und Linksradikalität.
Fast immer sind es junge Gehirne, die das Neue ausbrüten und fast immer sind es alte, die dem Neuen skeptisch gegenüberstehen. Daraus ergibt sich eine gewisse Funktionsteiligkeit. Jugendliche Progressivität sorgt für Dynamik, die Konservativität der Gereifteren für Stabilität. Das zeigt sich unter anderem in der Hirnleistung. Entsprechende Tests ergeben, dass die Intelligenz der Jugendlichen „fluider“ ist. Beim Problemlösen wird das deutlich, im abstrakten Denken und bei der Erkennung von Mustern. Ältere Hirne hingegen verfügen über mehr „kristalline Intelligenz“ und setzen diese gegenüber jüngeren mit Vorteil ein, wenn es um Wissen und Erfahrung geht. Allerdings lässt fast immer die Motivationsstärke mit dem Alter nach, wie vieles Andere leider auch.
Was nun, wenn es der Gesellschaft so gut geht, dass die Jungen gar keinen Veränderungsdruck spüren, was, wenn sich anstelle eines vernünftigen Verlangens nach Mehr und Besser Überdruss breitmacht? Was, wenn man als Kind und Jugendlicher alles Feine und Gute schon probiert hat, über das neueste Smartphone verfügt, oft genug auf grässlich anstrengenden alpinen Pfaden den Eltern hinterhersteigen musste und als 15- oder 17-Jähriger schon mehrmals auf Mallorca war? Was, wenn man als 13-Jähriger den ersten Sex hatte, was, wenn vom Elternhaus immer genug Geld kommt und auch kommen wird, um sich alles halbwegs Begehrenswerte leisten zu können? Ohne eigene Arbeit. Die der Eltern genügt. Auch später noch, da sich das aus dem Testament ergibt. Ja dann, also dann, dann kann schon mal ordentlich Langeweile aufkommen, eine chronische, eine pathologische, eine Langeweile, unter der man heftig leidet. Nämlich so wie unter dem Geschwätz der anderen, die sich genauso langweilen. Einigermaßen raus verhilft der Kick. Und wenn es nur das Beschmieren von Wänden ist. Mit Botschaften, die genauso geistlos sind wie man selber ist. Für noch mehr Laune sorgt das Schreddern von Parkbänken, das Klirren von Glasscheiben oder gemeinsames Johlen und Kreischen auf dem Anmarschweg zum Fußball. Auch hilft ein wenig, wenn man den Tag elektronisch verzwitschert – „twittern“ heißt das heute. Falls einem nichts Besseres einfällt, lässt sich das Twittern auf Dauertätigkeit schalten. Was allerdings noch mehr hülfe (helfen würde, helfen täte), wäre, endlich mal ordentlich rangenommen zu werden. Wenn schon nicht von den Eltern oder der Schule oder vielleicht durch eine neu zu installierende Wehrpflicht, dann von einem Menschen, der weiß, worum es im Leben geht. Denn solcherart Menschen gibt es eben auch – immer noch und hoffentlich in aller Zukunft, junge wie alte, Frauen wie Männer –, denen der Tag zu kurz ist, um alles das zu schaffen, was sie zu schaffen wünschten. Prof. Dr. Gerald Wolf, Neurobiologe

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