An allem klebt ein Wort

Ich bleibe, was ich bin! Diesen Ausspruch liest  oder hört man häufig in kurzen Selbstbeschreibungen. Die Betonung des eigenen, starken Selbstbewusstseins mag darin mitschwingen. Die meisten wissen aber, dass Selbstbewusstsein im Handeln in vielen konkreten Situationen sichtbar wird und dass ein selbstbewusster Mensch wahrscheinlich nie auf Selbstbewusstsein pochen würde. Deutlich werden ebenso Maxime als unveränderliche Positionen markiert. Nichts von diesen Erklärungsmöglichkeiten steht in dem Satz mit fünf Wörtern. Und doch bietet die kleine Aussage eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten.

Was ist das Wort? Worüber gibt es uns wirklich Aufschluss? Zwischen dem zweiten und dritten Lebensjahr spricht ein Kind erstmals die Selbstbezeichnung „Ich“ aus. Die Eltern haben ihm den Unterschied zwischen „Ich“ und „Du“ vermittelt und zwar mit hinweisenden Gesten, indem man auf die entsprechende Person zeigt. Ein ganzes Leben bleibt dieses „Ich“ als Personalbezeichnung erhalten. Doch wie viel „Ich“ steckt in einem Menschen von 85 Jahren gegenüber einem Dreijährigen? Es wird einer Frau oder einem Mann in hohem Alter kaum mehr möglich sein, die Sekunden ihrer Lebensfrist in Worten auszudrücken. 85 Jahre – das sind 2.680.560.000 Sekunden. Wollte man jeden Moment in Worte fassen, käme man aus dem Schreiben nicht mehr heraus und hätte doch nie alles sagen und erklären können.

Allem, was außerhalb unserer unmittelbaren Erlebenswelt ist, haften wir gern das Wort Universum an. Was aber darin eingeschlossen ist, können wir nicht abschließend erklären. Ein Wort genügt, um unserem Verstand ein wenig Verstehen zu schenken. Allerdings mussten uns die Worte zunächst eingepflanzt werden, damit wir einem anderen in seinen Beschreibungen überhaupt folgen können. Und wie das Beispiel des lernenden Kleinkindes zeigt, hängt das Aufnehmen, Zuordnen und letztlich das Verstehen von Begriffen unmittelbar mit sinnlichen Erfahrungen zusammen. Albert Einstein mag mit seiner Relativität von Zeit zunächst für Irritation gesorgt haben. Verständlich werden uns seine Gedanken jedoch nur, weil wir sie an unseren Sinneserfahrungen messen können. Einem Blinden eine Farbe erklären zu wollen, macht deutlich, wie schwierig es ist, etwas außerhalb der Sinne mit Worten fassen zu wollen. Und doch geben wir dem Wort als solches oft eine höhere Bedeutung als den Ursachen und Bedingungen, warum wir als Wesen überhaupt existieren können.

Das Zusammenleben unter einer Gruppe oder gar zwischen verschiedenen Ethnien und Völkern soll möglichst gerecht gestaltet sein. Könnten Sie einen alten Ägypter fragen, würde er sicher viel über die Gerechtigkeit erzählen, die von Göttern bestimmt ist. Und wenn schon das Wort Gott fällt, soll es hier auch kurz im Licht einer Aussage gewendet werden. Mit dem Wort Gott hat sogar das Unbeschreibliche unter den Menschen ein Etikett bekommen, genauso wie die Negation aller Schöpfungs- und Bestimmungsvorstellungen eben eine Deutung ohne endgültigen Beweis ist. Noch jede Erklärung veränderte sich im Verlauf der Menschheitsgeschichte unter sich ändernden Bedingungen. Die Vokabel Bedingung ist wiederum eine recht schwammige Annahme, wissen zu wollen, was zahlreiche Individuen in einer bestimmten Zeitspanne erlebt, gefühlt und daraus erklärt haben.

Die eigentliche Faszination ist die Fähigkeit unseres Geistes, eben allem – selbst dem Unmöglichsten – ein Wort anzukleben und zu meinen, damit wäre alles oder zumindest vieles gesagt. Schreiben und Reden hören nicht auf, weil es unser Menschsein im Kommunikationsvermögen ausmacht und auch weil wir jedes Geschehen in andere Zusammenhänge rücken und völlig neu auslegen können. All dieser Wortzauber vollzieht sich auf syntaktischen und semantischen Ebenen, deren Bestimmung uns überhaupt nicht bewusst sein muss, um uns verständigen zu können.

Was oft im Austausch von Worten verloren geht, ist sich klar zu machen, dass eben jeder Begriff nur als ein recht hölzernes Modell herhält und nichts über die Vielgestalt von Wesen und Prozessen aussagen kann. Dennoch haben wir den Hang, in wenigen Worten eine Erklärung zu finden. Kein Mensch möchte in Schubladen gesteckt werden. Ein Etikettieren über menschlichen Wesensreichtum wird oft als verwerflich bezeichnet. Und doch hängt sich jeder selbst Begriffe an, die anderen etwas vermitteln sollen.

Seit einigen Jahren kursiert die Vorstellung, dass neue Worte oder Sprachveränderungen für mehr Gerechtigkeit untereinander sorgen könnten. Vor allem würden Persönlichkeiten ausgeschlossen und benachteiligt werden, die keinen Ausdruck im dualen Geschlechterkonzept finden. Es müssen also Begriffe her, die sie im allgemeinen Sprachgebrauch einschließen. Gendergerechte Sprache sagt man dazu. Doch der Mensch kann sich eben mehr in einem Wort vorstellen, als ihm hier sozialwissenschaftlich oder politisch unterstellt wird. Die Selbstbezeichung „Ich“ zeigt das, genauso wie das Wort „Gott“ oder der Begriff „Universum“. Oder glaubte jemand, dass beispielsweise die „Universum*innen“ alle möglichen Persönlichkeitsvarianten besser beschreiben würde?

Ohne den konkreten Handlungs- und Erlebnisbezug verlieren Bezeichnungen schnell an Bedeutung. Bedeutsam ist nämlich, was im Leben ist und nicht was theoretisiert behauptet wird. Der „Verein Deutsche Sprache“ hat ein Aufruf unter dem Titel „Schluss mit dem Genderunfug“ veröffentlicht. 100 namhafte Erstunterzeichner unterstützen die Petition. Natürlich gibt es sofort Widerstand. „Das ist gesellschaftlicher Rollback als Sprachkritik getarnt. Sprache lebt und verändert sich! Unsere wunderbare Sprache braucht keine ,Verteidiger’, die sie ins Museum stellen wollen“, schreibt der Triathlet und Sozialdemokrat Julian Lange bei Twitter. Richtig, Sprache verändert sich. Das Wort „Rollback“ ist eine pure Unterstellung. Doch stets prozesshaft und realen Bedingungen, so wie Eltern ihren Kindern innerhalb ihres Sinnesvermögens Worte beibringen. Die Vorstellung, dass Sprache und Sprachgerechtigkeit verordnet werden könnten, ist das Neue. Andere soziale Geschlechter bringen sich ins Leben und die Erfahrungen einer Gesellschaft ein. Schreiben, reden und handeln. Jede Wahrnehmung darüber erzeugt Verstehen und respektvollen Umgang miteinander, nicht eine Neuetikettierung. Ich weiß, wie ich bin, andere wiederum haben keinen blassen Schimmer, wie ich bin. Allerdings kann ich mich nur aus solchen Worten heraus beschreiben, die mir mein Verstand zur Verfügung stellt, genauso wie ich zwar ein Bild betrachten kann, das ohne mein Wissen, wie ich die darin enthaltenen Elemente bezeichnen sollte, nichts zu sagen hätte. Deshalb klebt an allem ein Wort, was manches Mal deshalb völlig widersinnig ist, weil es außerhalb jeder sinnlichen Erfahrungswelt steht. Thomas Wischnewski

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