Römers Reich: Die Würde wird längst angetastet

Der 70. Geburtstag des Grundgesetzes fand dieser Tage zurecht vielfach eine angemessene Würdigung. An dieser Stelle muss wohl niemandem die Bedeutung der Verfassung erklärt werden. Ich halte mich für einen Verfassungsjünger. Jünger, also auf das Grundgesetz verpflichtet, bin ich noch keine 30 Jahre. Umso höher schätze ich das rechtliche Fundament, auf dem ein gesellschaftliches Gebäude errichtet wird. Weil erst darauf Stabilität, Schutz, Verantwortung, Vertrauen und Verlässlichkeit bauen.

Jeder Architekt weiß, wer ins Fundment eines Hauses eingreift, zerstört dessen gesamte Statik. Es scheint jedoch die Vorstellung zuzunehmen, dass aus Verfassungsänderungen mehr Individualschutz und Rechte Einzelner abgeleitet werden könnten. In Römers Reich sehe ich das anders. Nur, wenn der Rahmen weit, offen und fest ist, können Zwischendecken und Wände neu justiert und den Gegebenheiten neu angepasst werden. Je mehr Partikularinteressen durch Hilfskonstruktionen ins Fundament eingelassen werden, umso wackliger wird alles, was darauf steht. Für den Schutz der Rechte von Minderheiten bedarf es keiner Verfassungsänderung. Der Artikel 1 mit dem ersten wundervollen Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ legt das Fundament für Schutz und Rechte jedes Individuums. Darauf können andere Gesetze formuliert werden, die Einzelinteressen, Ausgleich, Rechtsstellungen und Sanktionen bei Verletzungen gewährleisten. Jede Aufspaltung und jede Differenzierung bohrt ein Loch in die verfassungsmäßige Grundplatte. Niemand darf zum Beispiel etwas gegen Menschen vorbringen, sie benachteiligen oder diffamieren, die sich nicht eindeutig einem Geschlecht zuordnen können. Dieses Verständnis ist bereits in der Unantastbarkeit für die Würde enthalten. Die Aufspaltung von Würde in abgrenzende Definitionen, fasst die Würde als allgemeines Gut jedoch leider an. Die Aufspaltung von Würde schafft würdelose Gegensätze. Das löst Kettenreaktionen für neue Gesetzeskonstruktionen aus.

So wie alle – egal welcher Façon – in ihrer Würde unteilbar sind, braucht es nur das Wort Würde, um die Gesamtheit aller schützenswerten Rechte darin eingeschlossen zu haben. Das ist vergleichbar mit dem über allem stehenden Gottesbegriff in jeder Religion. Wer eine Ausdifferenzierung und Untersetzung des Begriffes Würde in der Verfassung fordert, sägt an selbiger und schneidet sie auf. Manche, heute bereits existierende Regelung, die vielleicht irritiert, ist ein Indiz dafür, dass offenbar ein Verständnis Einzug gehalten hat, das zwischen Würde unterschieden werden könnte. Davor bewahre uns die Verfassung, aber nur, wenn wir sie in diesem höchsten Grundsatz bewahren. Axel Römer

Zurück