Langsamer Leser: Musikalisch nach Bruegelschem Maß

Nach Dialyse, Lesung nun doch die Zeit, im Kulturhaus Hellerau der Einladung zu Babys Party zu folgen. Was soll ich mich zieren? Der Mann dort oben auf der Bühne des Festspielhauses, des Zentrums für europäische Kunst, der links von Till Brönner, ist Baby Sommer, gerade 75 Jahre geworden, sprühenden Geistes, der im Rahmen seiner Geburtstagsfeierlichkeiten in drei Tagen vier sehr unterschiedliche Konzerte, solistisch, im Duo, im Trio gab und ein Wort überhaupt nicht versteht: Dass man sich schonen müsse. „Meine Mutter Erna, die sechsundneunzigjährig heute an diesem Konzert teilnimmt, hat mir gestern das Versprechen abgenommen, dass ich im Alter von zweiundneunzig Jahren mein letztes Konzert spielen werde. Ich denke, da haben wir noch ein Weilchen Zeit.“ Da, in Hellerau, entwickeln zwei, die Neugier aufeinander haben, eine musikalische Landschaftsmalerei, die das Publikum von Beginn an in den Bann zieht. Der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Vorhin noch sah meine Frau im Foyer des Hauses eine Dame auf Baby zugehen. Sie hatte eine Karte, ihr Begleiter offensichtlich nicht. Sie flehte den Meister um eine Karte an. Ihr Begleiter weinte in der Aussicht, sie dann nur bis zum Einlass begleiten zu dürfen. Wo Baby spielt, spielen sich Dramen ab. Später sahen wir beide im Konzertsaal und freuten uns für sie. Auch sie in Erwartung der musikalischen Landschaften, die folgen werden. Die CD wäre eine exzellente Vorübung auf das Konzert gewesen, hätte man sie da schon gehabt. Gegenüber dem Konzert, das Baby gleich auf der Bühne beginnen würde, eine Vorübung, denn was von da an auf der Bühne passiert, hat nur insofern etwas mit dem Album zu tun, als da hier und da Motive fortgeschrieben werden, Anregungen geholt werden, aber alles, alles neu eingerenkt wird, fortimprovisiert wird, von Konzert zu Konzert. Und man merkt deutlich, dass hier zwei Musiker auf der Bühne stehen, die um das Können des anderen wissen, die aufeinander neugierig sind, in deren Begegnung die Hochachtung des Jüngeren vor dem Älteren in jedem Stück spürbar ist, der Jüngere aber sich von Konzert zu Konzert stärker einbringt, sich freibläst, sich von Mal zu Mal einen eigenen Corpus schafft, dabei freilich, wie Sommer auch, nie den Dialog verlässt. Jeglicher Versuch dazu wird am Ende wieder eingehegt. Zwischen Anfang und Ende eines Stückes aber sieht man Bilder, Landschaftsmalerei von bruegelschem Maß. Naturmalerei, zu der auch die genaue Beobachtung des Porträts von Menschen gehören, weniger um deren Individualität herauszustreichen als vielmehr sie in ihrer Visualität als Teil dieser Landschaften festzuhalten. Es sind von vornherein europäische Landschaften, die sie malen. In einer Dichte der Bilder, ohne dass der Hörer übersättigt wird, weil es beiden gelingt, ihren unbändigen Freiheitswillen in strenge Formen zu gießen und ihn aus dieser Form wachsen zu lassen. Nachdem Sommer mit Freunden in den siebziger Jahren Melodik und Rhythmik zerschlug und immer wieder von der Straße räumte. Friedhelm Ruschak, der Bassist und Mastermind von „Juckreiz“ erzählt, wie er, damals zum Publikum im Café Impro sitzend oder stehend mit Faszination beobachtete, wie Sommer im Ergebnis dieser neuen Spielweise den Fußboden des Cafés „betrommelte“, während Gumpert Streichhölzer zwischen die Tasten seines Keyboards steckte, um die Töne seines Instumentes zu konservieren, „bis zum Abwinken, furchtbar, aber faszinierend.“ „Wir haben das damals nicht verstanden. Wir kamen vom Rock. Aber irgendwie spürten wir eine Faszination, die wir uns nicht erklären konnten.“

Das Konzert hielt sich nicht an das neue Album „Baby´s Party – Guest: Till Brönner“. So begann es – im Gegensatz zum Album, in welchem es als dritter Take zu Hören ist – mit einer Bearbeitung des Welthits „Danny Boy“, dessen Melodie von der alten irischen Volksweise „A Londonderry Air“ stammen, die Betonung und der Aufbruch in eine musikalische Weite, aber einem europäischen Verständnis von Musik, das Traditionelles mit der Moderne verbindet. Hat Sommer zu seinem 70. Geburtstag seinen Vorbildern ein Denkmal gesetzt, erzählte das Album, was ja nicht falsch war, Geschichten aus der Vergangenheit Babys, gibt er sozusagen seine große, aus dem Bemühen um Globalität stammende, dabei die Einsamkeit des Solisten begleitende Attitüde als Schau aus der Vergangenheit preis. Fünf Jahre später hält der erstaunte Hörer eine, von der „Jazzpolizei“ früh verteufelte, Melodien nachspürende Scheibe mit einem jungen Gegenüber, das sich gleichfalls schon ein Standing in der Szene erarbeitet hat, freilich am gegenüberliegenden Ufer des unbarmherzig weiter fließenden musikalischen Flusses, der seinen musikalischen Partner zu einer altersbedingten Umkehr einlädt und Sommer zwingt, sich auf sein feines Gespür zu Melodik und Rhythmus zu besinnen. Von daher gewinnt die Platte europäisches Format, ist sie auf (eine schwierige) Zukunft ausgerichtet:

Danny Boy
Oh Danny Boy, die Dudelsäcke, die Dudelsäcke rufen,
Von Tal zu Tal, und den Berghang herunter.
Der Sommer ist vorbei, und alle Rosen fallen,
Du bist's, du bist's, der gehen muss, und ich muss verweilen.
 
Doch kommst du zurück, wenn Sommer in den Wiesen ist,
Oder wenn das Tal verstummt und weiß von Schnee ist,
Dann werde ich da sein im Sonnenschein oder im Schatten.
Oh Danny Boy, oh Danny Boy, ich liebe Dich so sehr.
 
Und wenn Du kommst, und alle Blumen verwelken,
Und ich tot bin, so tot, wie ich nur sein kann,
Wirst Du kommen und den Ort finden, wo ich liege,
Und niederknien und dort ein Gebet für mich sprechen.
 
Und ich werde es hören, obwohl Du leise über mich trittst.
Und mein ganzes Grab wird wärmer und lieblicher sein,
Denn Du wirst dich bücken und sagen, dass Du mich liebst,
Und ich werde in Frieden ruhen, bis Du zu mir kommst.

Nach Bruegelschem Maß? Pieter Bruegel d. Ä., der große niederländische Maler des 16. Jahrhunderts, gewann einen Weltruf über seine Landschaftsmalerei und nicht zuletzt auch in der Genremalerei, in der er Szenen aus dem bäuerlichen Umfeld, meist versehen mit einer moralischen Botschaft, malte. Diese Bilder sind wunderbare und oft auch wunderliche Zeugnisse ihrer Zeit, die zum einen in ihrer Bedeutung weit über den lokalen Rahmen bald in ganz Europa Menschen Zugang zur Bruegelschen Kunst boten, aber auch weit über den Zugang als den zu einem Zeitzeugnis hinaus Menschen heute noch begeistern. Baby´s Party, habe ich den Eindruck, hat zwei Protagonisten, die sich genau dies aufs Panier geschrieben haben: Eine überzeitliche, überregionale musikalische Landschaftsmalerei mit Ausflügen in die Genremalerei. Es ist beim Hören dieses HörBilderBuchs dieser Ausflug ins Ländliche statt des Urbanen nicht von der Hand zu weisen. Gemessen an dem, was wir jetzt zusammengetragen haben, kommt im Titel das Album underdressed daher. Es ist weitaus mehr als Baby´s Party. Ich hätte mir da eher einen der Titel des großen flämischen Malers vorstellen können, „Hochzeitstanz im Freien“ etwa.

Was beide Musiker auf diesem Album überzeugend demonstrieren (bei Baby mit einer gewissen Schadenfreude benannt), ist die Überzeugung (bei Baby nach mehr als fünfzig Jahren einer einmaligen musikalischen Weltreise und in Jahrzehnten gereift), dass free jazz tatsächlich frei sein kann von allen Bindungen, auch von denen, die die „jazzpolizei“ ihrerseits aufrichtet, dass eben free nur free sein darf. Es sind zugleich behutsame Bilder, die beide miteinander beim Erkunden dieser musikalischen Landschaften Deutschlands, der Schweiz, Italiens, Spaniens, Schottlands finden. Eine Wohltat angesichts gegenwärtiger europäischer Disharmonien. Jazz thing hat in einer Besprechung dieses Albums in der September/Oktober-Ausgabe geschrieben: „Sommers tonal mehrfarbige Schlitztrommel-Grooves, rappelnde Küchenutensilien, Gongs und Schamanengesänge treffen auf Brönners glasklare, mal gestopfte, mal angeschmatzte Trompete. Die beiden leisten Vorbildliches: Sie zeigen, dass Verbindendes wichtiger sein sollte als Trennendes.“ Das sollten sich alle Parteien hinter die Ohren schreiben, nicht nur die, die vom langsamen Leser in seinem letzten Satz benannt ist.

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