Langsamer Leser: Lagerhaltung

Schon aus finanziellen Gründen darf sich die Flüchtlingssituation von Herbst 2015 nicht wiederholen“, sagte 2016 Bundestagsvizepräsident Johannes Singhammer (CSU) anlässlich der Vorstellung der Zahlen des Wissenschaftlichen Dienstes zur Kostenübernahme von Aufnahme, Unterbringung und Versorgung von Asylbewerbern, die, hochgerechnet bei 23 Milliarden Euro gelegen haben. „Für die ist ja alles Geld der Welt da. Für uns Deutsche bleibt da nichts.“ So sagt mir eine ältere Dame auf dem Markt. „Da können Sie fragen, wen sie wollen. Die denken alle so.“ Ja, versuche ich zu sagen – es bleibt bei dem Versuch, also einem gescheiterten – aber wenn wir die Milliarden, die wir im Zuge der Wünsche eines wildgewordenen amerikanischen Potentaten der Bundeswehr nachwerfen wollen, in Bildung und Sozialwesen stecken würden, wären wir da nicht besser beraten? Okay, das prallte ab. „23 Milliarden!“ Die Dame war verstimmt. 
Ich erzählte ihr diese Geschichte: Ein Meisterbetrieb des Elektrohandwerks auf dem flachen Lande sucht einen Praktikanten. Der wird vom Jobcenter vermittelt. Er stellt sich vor. Nennen wir ihn Hassan. Der Elektromeister schluckt. Das war jetzt nicht der junge Mann, den er sich gedacht hat. Aber er schlug ein. Der junge Mann war interessiert, verlässlich, lernte schnell. Der Meister war angetan und schlug ihm vor, in seinem Betrieb eine Lehrstelle anzutreten. Grundbedingung: Du musst einen Schnellkurs Deutsch machen. Schließlich musst Du Deine Kunden verstehen. Der junge Mann geht darauf ein. Er will, deshalb kam er schon ins Praktikum, auf jeden Fall Elektriker werden. Der Meister hat einen, noch dazu motivierten und gelehrigen, Auszubildenden. Der junge Mann sieht eine Perspektive. Der Meister besorgt dem jungen Mann eine Wohnung. Der Lehrvertrag wird unterschrieben. Aber: Er hat seine Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Behörde klärt den Meister auf: Der unbegleitete junge Mann hat noch keine Bleibegenehmigung. Der Vertrag ist null und nichtig. Der Junge muss in die Asylbewerberunterkunft zurück. Die Perspektive ist hinfällig. Der Elektromeister wird keinen Lehrling ausbilden können. Es hat sich seit Jahren schon kein deutscher Jugendlicher zu einer Ausbildung bei dieser Firma beworben.
Wieso erhält ein Jugendlicher, der arbeiten will, der sogar seinen Traumberuf erlernen könnte, der einen Ausbildungsplatz fest hat, der die Chance hat, später ein tüchtiger Steuerzahler zu werden, genau diese Chance nicht. Ja, schlimmer, Herr Schäuble, er wird gezwungen, dem deutschen Volke auf der Tasche zu liegen. So sieht direkte Wahlkampfhilfe für die AfD aus. „Jaja, das ist ein Einzelfall“, sagt die Dame.
Ich erzähle ihr eine zweite Geschichte, gerade im Deutschlandfunk gehört, wie ich hoffe, ordentlich recherchiert. Ich erzähle sie nur, weil sie so unglaublich glaubhaft war: Im Friedrich-Ebert-Krankenhaus Neumünster, genauer in der Flüchtlingsambulanz des Krankenhauses, arbeiten syrische Ärzte, die als Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Sie sollten am Ende dieses Praktikums ihre Approbation erhalten. Nebenbei lernten sie deutsch. Die Krankenhausleitung war mit der Arbeit der syrischen Kollegen ausgesprochen zufrieden.
Nun aber forderte das Landesamt für soziale Dienste, dass die Ärzte Ausbildungsnachweise aus Syrien beibringen. Laut dem Ärztlichen Direktor des Krankenhauses, Ivo Heer, droht nun die Schließung der Flüchtlingsambulanz, weil die beiden syrischen Ärzte dort wieder abgezogen werden sollen. Sie können die geforderten Stundenübersichten mit den praktischen und theoretischen Anteilen ihres Studiums von ihrer Heimatuniversität in Aleppo nicht erbringen. Ivo Heer:
„Wer die Bilder aus Aleppo kennt, dem fehlt die Fantasie, wie die beiden Kollegen aus Aleppo nun irgendwelche Stundennachweise nachbringen sollen. Sie haben das versucht, sind dann aber mit der Geheimpolizei konfrontiert worden, die von ihnen gewissermaßen erst Bescheinigungen über die Regimetreue haben wollten, bevor dann Bescheinigungen aus der Universität zurückkommen.“ Nein, es ist nicht so, dass die beiden Ärzte keine Nachweise über ihr Studium und ihren Studienabschluss vorlegen könnten. Es fehlt nur der von der Universität nochmals beglaubigte Stundennachweis. Auf Deutschlandradio-Anfrage heißt es aus dem Ministerium: „Ein Abweichen von den rechtlichen Rahmenbedingungen widerspricht den Grundsätzen der Gleichbehandlung und des Patientenschutzes. Deshalb können wir den Standard nicht im Einzelfall absenken.“ Das heißt, die Ärzte müssen ihren Deutschkurs wiederholen, nochmals Kurse besuchen. Auf gut deutsch: sie kosten wieder, statt sie verdienen und Steuern zahlen dürfen. Wieder ein Einzelfall? Ich könnte Ihnen mit Einzelfällen Zeitungen vollschreiben. Sagen Sie einfach, ab welcher Zahl der Eindruck von Einzelfällen sich auflöst in ein gesamtgesellschaftliches Problem, das wir zweifelsohne haben.
Aber es geht nicht nur um Kosten. Was da betrieben wird, sind Integrationsverhinderungsprojekte, bei denen man Flüchtlingen am Ende genüsslich die Schuld aufladen kann, dass sie sich gar nicht integrieren wollten. Nun haben wir ja den Türkei-Deal, für den wir auch den Restbestand an Werten, soweit man davon überhaupt noch reden kann (die Nato eine Wertegemeinschaft: Ist soviel Zynismus eigentlich zulässig?) über die Werte-Resterampe schaffen. Aber glaubt tatsächlich irgendwer, dass sich 2015 nicht wiederholen wird? Die Folgerung müsste nicht sein, wie kann ich das verhindern? Die Folgerung dürfte auch nicht sein: Wieviel Blut bin ich bereit zu ertragen, wenn es an den Außengrenzen der EU ernst wird. Die Folgerung müsste sein: Welche gemeinsame Strategie entwickeln Politik und Gesellschaft für eine geordnete Ankunft. Was wie die Vision eines „Gutmenschen“ klingt, wird die Realität der nächsten zwanzig, dreißig Jahre bestimmen – und darüber braucht es das fundierte Gespräch ohne Angstmacherei, aber auch ohne multikulturelle Blütenträumerei, aber auf der Basis der Annahme der Ankunft der Anderen. Die wird stattfinden. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir sie gestalten wollen. Bis jetzt heißt unsere Antwort überwiegend „Lagerhaltung“. In Afrika, in der Türkei, bei uns natürlich auch. Es gibt einzelne Städte und Gemeinden, die in den Ankommenden eine Chance sehen. Dort wurden Flüchtlinge von dezentral privat untergebracht. Man hat da gute Erfahrungen gemacht und ein wesentlich entspannteres Miteinander initiiert. Ein Beispiel ist das Leverkusener Modell. Auch in Hildesheim könnte man sich da zum Thema austauschen.
Da war doch mal irgendwas mit Demokratie? Ging es da nicht auch um das Gespräch auf der Suche nach dem gesellschaftlichen Konsens? Momentan sehe ich nur einen Konsens zwischen AfD-Wählerschaft und den etablierten Parteien. Da bleibt auch die Meinung in Lagerhaltung. Gruselig. Ludwig Schumann

Zurück