Langsamer Leser: Immer dieser Jazz

Es hat einen selten blöden Titel, der sich sicher auch nicht durch die Subline auffangen lässt. Es ist aus einer in den fünfziger und sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, durch die Biographie des Verfassers gleichfalls, erklärbaren, aber so undifferenziert schwer genießbaren  Schwarz-Weiß-Sicht der deutschen Geschichte geschrieben. Aber Siegfried Schmidt-Joos´ im Doppelsinne „schwergewichtigen“ im Mitteldeutschen Verlag 2016 erschienenen Erinnerungen „Die Stasi swingt nicht“ ist für jeden Jazzfan eine Perle, der sich die Anfänge der Infiltration des Jazz in die deutsche Musikwelt, beginnend in den zwanziger Jahren, mit guter Kenntnis der dreißiger und vierziger Jahre und schließlich der Musik der „Roaring Fifties“ links und rechts des Eisernen Vorhangs erarbeiten will. Der Titel ist zwar marktträchtig, aber leider viel zu engführend, weil Schmidt-Joos, lässt man mal die in der Gegnerschaft zum Stalinismus verständlichen Ideologismen weg, eine atemberaubende Detailfülle eben nicht nur der Zeit nach 1947, sondern auch der Rolle des Jazz, der illegalen „Hot Clubs“ in Deutschland während der Nazizeit, zu bieten hat.
Schmidt-Joos weiß vor allem in Geschichten und Anekdoten zu erzählen, wie der Swing in Hitlerdeutschland überlebte. So stürmte einmal ein SA-Kommando einen Saal, in dem das Orchester Teddy Stauffer Swing spielte. Deutsche Musik verlangte die SA. Stauffer stellte sich unwissend und meinte, das sei doch welche – und ließ die Big Band zum Beweis „Bei mir bistu shein“, einen Song der Andrew-Sisters mit der Komposition des jüdischen Komponisten Sholom Secunda und dem Text der jüdischen Liedtexter Jacob Jacobs und Sammy Cahn, vorspielen. Die SA, diese Herkunft nicht kennend, zog sich zurück. Noch im März 1934 nahm der Münchner Komödiant Weiß Ferdl ein Couplet mit folgendem Text auf:

Man hört nicht Saxophone,
tanzt nicht Rumba, Charlestone –
fort mit Jazz und Niggertanz,
sind nicht mehr meschugge ganz.
Alte Weisen hört man wieder,
stramme Märsche, deutsche Lieder,
die man gern im Ohr behalte(t).
Gleichgeschaltet, gleichgeschaltet.
Freilich, diese Platte wurde alsbald verboten.

Unmittelbar nach dem Krieg wird natürlich offen gejazzt, die amerikanischen Soldatenclubs sind die Vorreiter. Aber viele deutsche Musiker erspielen sich schnell internationales Niveau. Am 3. Februar 1947 wird von Ernst Busch im Musikverlag Lied der Zeit ein Schallplatten-Label mit dem Namen AMIGA gegründet. Hier entstehen die ersten wichtigen deutschen Jazz-Aufnahmen, damals schon mit Rolf Kühn, mit Erwin Lehn, vor allem auch die ersten deutschen Bebop-Aufnahmen mit dem Helmut-Zacharias-Quartett. Zur ersten AMIGA-All-Star-Band gehörten Helmut Zacharias, Coco Schumann, Erwin Lehn, Walter Dobschinski.
Jazz wurde, mit Befürwortung der sowjetischen Kulturoffiziere, im Rundfunk gespielt, beispielsweise beim „Berliner Rundfunk“ in der „halben Stunde für die Freunde der Jazzmusik“, die es ab 1946 gab. Binnen kurzem gab es in den vier Besatzungszonen eine intelligente und übersprühende Jazz-Landschaft. Freilich, das weiß Schmidt-Joos auch, nicht zu jedermanns Freude. Er zitiert aus einem Bebop-Beitrag aus der Zeitschrift „Melodie“ einen Rundfunkhörer, der nach einem dort gehörten Dizzy-Gillespie-Porträt mit den folgenden Worten reagierte: „Das Beste wäre, alle Künstler dieser Art zu erschießen. Mögen meine Kinder vor dem Anhören dieser Musik bewahrt bleiben, denn Gott weiß, was ihnen dadurch passieren kann....“
Die Anti-Jazz-Kampagne ließ mit dem Beginn des Kalten Kriegs nicht lange auf sich warten. Schmidt-Joos zitiert Erich Loest: „Es hieß dann, es ist die Musik des Kosmopolitismus, des American Way of Life. Das wollen die uns aufzwingen, …, sie wollen den Sozialismus zurückdrängen…“ In Dessau ließ die Oberbürgermeisterin nach ein paar herausragenden Swing-Nummern das renommierte Leipziger Kurt-Henkels-Orchester abtreten, indem sie erklärte, „dieser amerikanische Hot“ sei in ihrer Stadt „untragbar“. Henkels machte auf dem Absatz kehrt und verließ mit seinem Orchester den Saal.  Schmidt Joos weiß auch um einen Text, den Fips Fleischer, seitens der Kulturfunktionäre nach einem „sozial relevanten Text“ gefragt, mit der Frage, ob er so gefalle, vortrug:

Der Willibald, der Willi, der liebte seine Trine
Genau wie seine Zementmischmaschine.
Und wenn der Willibald zu seiner Nachtschicht geht,
steht sie an der Ecke mit ‘nem Butterbrotpaket.
Am Belag der Brote merkt man dann genau,
die Trine wird bald seine Frau.
Und dann im neuen Heim wird man sehr glücklich sein.
Man lädt sich Kumpels ein, Mensch Willi, das wird fein.

Der Leiter der Musikabteilung des Berliner Rundfunks, Helmut Koch, verstieg sich, freilich im Sinne der neuen Kulturpolitik, zu folgender Auslassung über das deutschlandweit gepriesene Radio Berlin Tanzorchester unter Erwin Lehn: „Wir müssen jeden westlichen Einfluss aus dem RBT-Orchester herauspressen, selbst wenn wir eine hydraulische Presse dazu brauchen sollten!“ Es folgt der fast komplette Auszug der führenden Jazzmusiker aus der DDR in die Bundesrepublik. Ganze Orchester verließen gemeinsam das Land im Osten.
Schmidt-Joos zitiert auch Walter Ulbricht, für den die „Kultur des amerikanischen Imperialismus eine Affenkultur“ war und „eine der wesentlichsten Errungenschaften dieser Affenkultur der heutige Jazz“. Erschreckend und bedrückend sind dabei die beinahe gleichlautenden O-Töne der Kulturfunktionäre im Dritten Reich mit denen der Ulbricht-Ära. Was freilich nicht verwundern muss: Beides sind geschlossene Denksysteme, in denen ein offenes Denken als sys-temerschütternd empfunden wird, auch eine auf Improvisation basierende, damit offene Musik.
Das ist in der Tat ein Verdienst dieses Buches, dass es Schmidt-Joos auf erzählerische Art gelingt, diese, nicht inhaltliche, aber innere Verbindung autoritärer Systeme offen zu legen. Es ist das alte Lied: Ob man nun gegen Kosmopolitismus oder gegen Globalisierung ist, also, gleichgültig mit welchem Namen man das Kind benennt, die einfachen Antworten führen zwangsläufig in Richtung Diktatur. Und die nimmt ebenso zwangsläufig das Volk als Geisel. Denn sie weiß, was für das Volk gut ist. Sie hat es oft genug betont. Sie kennt ihre Aufgaben, nämlich alles, was geistig verunsichert, was also Fragen aufwerfen könnte, in der bildenden Kunst, in der Musik, im gesellschaftlichen Gespräch, vom Volk fernzuhalten.
Das hat immer funktioniert, weil es frühzeitig gelang, den Menschen ein Feindbild zu injizieren. Injizierte Feindbilder machen aber abhängig, nämlich von denen, die sie injizieren. Die das Hirn besetzen. „Merkel muss weg!“ ist so eine Injektion. Sie kennen noch andere. „Lügenpresse“. Um das noch mal zu sagen: Siegfried Schmidt-Joos hat ein Buch über den Jazz in zwei Diktaturen geschrieben, gewichtiger ist bei ihm die zweite – aus Lebenszeitgründen. Was den Leser heute trifft, auch wenn das beim Autor nicht beabsichtigt war – und über die Unmenge an Detailwissen zum Thema hinaus – ist, dass wir uns mitten in einer gesellschaftlichen Situation befinden, in der die Weichen wieder in diese Richtung gestellt werden könnten. Wir werden ja gerade Zeuge davon, dass die Geschichte mit Herrn Trump doch keine Romanze ist. Ludwig Schumann

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