Jugendstil oder die Ermordung der Schönheit

Wenn ich zu meinem Spaziergang in den Rotehornpark aufbreche, komme ich oft durch unser schönes Jugendstilviertel im Bereich Harnackstraße, Seumestraße und den südlichen Teil der Sternstraße ab Ecke Geislerstraße. Auffällig ist der scharfe architektonische Schnitt in der Sternstraße auf der Höhe des großen Polizeigebäudes, der ehemaligen Kaserne. Vom Hasselbachplatz an erheben sich die hohen Häuser der Gründerzeit, die dann schlagartig aufhören. Das war keine Folge einer kriegerischen Zerstörung, sondern bis dahin ging bis 1900 das Festungsgelände. Magdeburg hatte sich ja nach der Katastrophe von 1631 total eingemauert und wurde durch ständige Erweiterungen zu einer der stärksten Festungen Preußens. Das südliche Ende der preußischen Fes-tung war etwa da, wo die Gründerzeithäuser in der Sternstraße enden. Weiter konnte man nicht bauen, die Festung war wie ein Korsett. Durch die preußische Kabinettsorder von 1900 wurde der Status als Festung aufgehoben und die meisten Festungswerke wurden Stück für Stück abgetragen. Man staunt, wie lange der preußische Generalstab an dieser Festung und ihrem ständigen Ausbau festhielt. Denn schon 1806 wurde Magdeburg kampflos den französischen Truppen unter Napoleon übergeben und als die alliierten Armeen der Preußen und Russen in den Befreiungskriegen gegen die Franzosen kämpften, zogen sie einfach an der französisch besetzten Festung Magdeburg vorbei und als sie in Paris ankamen, ergaben sich auch die französischen Besatzungstruppen in Magdeburg. Die Festung als wehrhaftes Bollwerk war eigentlich völlig überflüssig geworden. Trotzdem hielt der Generalstab bis zum Ende des 19. Jahrhunderts daran fest.

Als dann die Festungswerke stückweise abgetragen wurden, konnte man zu Beginn des 20. Jahrhunderts weiterbauen – und da baute man im Jugendstil. Was für ein Unterschied! Im nördlichen Ende der Sternstraße sieht man die Gründerzeithäuser mit ihren protzigen Fassaden und Treppenaufgängen; hinten aber waren sie eng mit mindes-tens einem oder auch einem zweiten dunklen Hinterhof. Die Quartiere des Jugendstils hatten keine Hinterhöfe mehr, sondern einen großen lichten und begrünten Innenhof. Die Fassaden waren nicht mehr protzig, sondern liebevoll im Jugendstil anmutig gestaltet. Leider war der Jugendstil nur eine kurze europäische Episode, der architektonisch aber in sehr vielen deutschen und europäischen Städten wunderbare Bauten hinterlassen hat.

Was hat es mit dem Jugendstil auf sich? Diese deutsche Bezeichnung ging auf die 1895 gegründete Kulturzeitschrift „Jugend“ zurück. In anderen europäischen Ländern hieß dieser Stil anders, Art nouveau im französischen Sprachraum, im Englischen auch Modern Style, im Italienischen Stile Floreale oder Sezessionsstil in Österreich. Dieser neue Stil in der europäischen Kunst war nicht nur architektonisch, sondern man findet ihn ebenfalls in der bildenden Kunst, auch in der Innenarchitektur, im Mobiliar und alltäglichen Gebrauchsgegenständen, wie z. B. bei den herrlichen gläsernen Vasen von Gallé, um nur ein Beispiel von Tausenden zu nennen. Der Jugendstil schuf sich auch eigene für ihn charakteristische Typografien. Auch für Laien ist dieser Stil leicht zu erkennen, wenn es um die bildende und angewandte Kunst geht. Jugendstil will immer schön sein, nie provozierend, nie schockierend. Er ist harmonisch, farbenfreudig, romantisch und anscheinend gibt es bei ihm nichts Böses. Pflanzliche Ornamentik und pflanzliche Motive werden bevorzugt. Manche Kunstgeschichtler sehen die Wurzeln dieses Stils schon im Impressionismus begründet. Auf dem Höhepunkt des Jugendstils begann etwa um 1912 herum auch der Expressionismus, mit seiner völlig anderen Ausdrucksweise, ausdrucksstark, expressiv, weniger romantisch und weniger verinnerlichend, auch die Disharmonie nicht scheuend, oft provokativ. Als ein Beispiel für malerischen Jugendstil könnte man in Worpswede den Maler Heinrich Vogeler oder den Schweizer Ferdinand Hodler nennen, manchen bekannt durch sein monumentales Wandbild „der Auszug der Jenenser Studenten“ in der Aula der Universität Jena, um nur zwei zu nennen.

In der Literatur ist es schwieriger den Jugendstil zu erkennen. Ich würde den Schriftsteller Richard Dehmel dazu zählen, vor allem mit seinem poetischen Werk „Zwei Menschen“ oder auch Stefan George. Auch die frühen Erzählungen und Romane Hermann Hesses könnte man vielleicht dazu rechnen. Noch schwieriger ist es vielleicht in der Musik, wo man Gustav Mahler, Richard Strauss oder auch den frühen Schönberg nennen könnte. Beispielhaft die Tondichtung „Verklärte Nacht“ von Schönberg nach einem Gedicht von Richard Dehmel.
In unserer Gegend gab es übrigens eine Jugendstilkünstlerin, die heute nahezu vergessen ist, die in Quedlinburg lebende und in großer Armut verstorbene Dorothea Milde (1887-1964). Von ihr gibt es wundervolle Holzschnitte, zum Teil mehrfarbig, Buchillustrationen sowie Bucheinbände. Langsam beginnt man sich ihrer wieder zu erinnern. Dorothea Milde hatte auch eine innige Verbindung zu der Jugendbewegung des „Wandervogels“. In dieser Bewegung liegt für mich zumindest für den deutschen Jugendstil eine seiner Wurzeln. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts begann von Berlin aus die Bewegung des Wandervogels, einem Zusammenschluss von Jugendlichen, meist Gymnasiasten, die im krassen Gegensatz zum verknöcherten wilhelminischen Schulsystem nicht mit Stehkragen und Gehrock ihre Freizeit leben wollten. Sie zogen an den Wochenenden in die Wälder, wanderten durch die Heimat mit offenem Hemd und kurzen Hosen, zelteten, kochten und sangen am Lagerfeuer. Die Heimat, die Natur und ihre Schönheiten, das waren ihre Freuden und nicht die engen Städte mit dunklen Hinterhöfen, Mietskasernen oder rauchenden Industriegebieten. Parallel zum Jugendstil breitete sich diese Jugendbewegung über ganz Deutschland aus und ihre gemeinsame Hymne war übrigens: „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ und die alten Lieder singen …“. Die Liedersammlung „Zupfgeigenhansel“ aus dieser Zeit, übrigens sogar in der DDR noch einmal aufgelegt, beinhaltet einen reichen Schatz an alten und damals neuen Liedern. Jugendstil und Wandervogel hatten ein ähnliches Schönheitsideal und eine gleiche romantische Naturbetrachtung. Auch die Freikörperkultur hat übrigens hier ihre Wurzeln.

Doch warum endete diese schöne, romantische Kultur mit so einer menschlichen Architektur, so herrlichen Bildwerken und solch gefälligem Mobiliar nach so wenigen Jahren? Ganz schrecklich und ganz einfach: Sie wurde ermordet. Sie starb im Ers-ten Weltkrieg. Wir können es heute kaum glauben und doch ist es wahr: die Wanderervogeljugend zog mit großer Begeisterung in Deutschland in diesen mörderischen Krieg. Ihre Vorstellungen vom Krieg waren ebenso romantisch wie die von der Natur. Sie meinten wirklich, dass ihre steife alte und formelle Welt in einem Krieg zerstört werden müsste, um einer neuen besseren Platz zu machen. Das mit der Zerstörung gelang ja, doch die neue danach war nicht besser, sondern größtenteils schlimmer. Übrigens waren es ja nicht nur die deutschen Jugendlichen, die in den Krieg drängten. Auch die französische Jugend war mit Feuereifer dabei, schließlich war sie von ihren Lehrern auf eine Revanche für 1870/71 indoktriniert worden. Im britischen Weltreich war das nicht anders, es gibt Berichte, Romane und Filme wie zum Beispiel aus-tralische Jugendliche zu Beginn des Krieges nach Europa drängten, um ihrer scheinbaren australischen Eintönigkeit zu entfliehen. Das Erwachen für all diese romantisch-kampflustige Jugend war bitter – sofern es noch ein Erwachen und nicht den Tod gab. Im Trommelfeuer und dem Giftgas des Ersten Weltkrieges starben Romantik und Schönheit des Jugendstils. „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“, lernten sie in ihren Schulen. Welch grauenhafter Irrtum: der Krieg ist der Tod der Schönheit und der Träume. Schaut unsere schönen Jugendstilgebäude mit offenen Augen an: Es sind Denkmäler der Träume von Schönheit, Freundschaft und Liebe.

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