Hengstmanns andere Seite: Freiheit für „Tante Emma“!

Das „helle Köpfchen“, der Philosoph René Descartes, kam Mitte des 17. Jahrhunderts auf den Satz: „Ego cogito ergo sum!“ Für alle, die wie ich kein kleines Latinum hatten, möchte ich Dank Internet übersetzten: Ich denke, also bin ich! Doch was passiert, wenn wir aufhörten zu denken: Wir kaufen! Egal was! Aber wir kaufen! Der leicht abgewandelte Spruch des Philosophenkönnte also lauten: „Ego konsume ergo sum“! „Ich kaufe, also bin ich!“ Wer bin ich, wenn ich kaufe? Natürlich bin ich ein Mitglied der Gesellschaft. Ein Mitglied der Konsumgesellschaft. Ich kaufe, also bin ich! Wo bin ich, wenn ich kaufe? Meistens in einem Haus. Also in einem Kaufhaus. Doch der Terminus „Kaufhaus“ müsste längst aus dem Duden gestrichen sein und durch das „urgermanische“ Wort „Center“ ersetzt werden, besser noch: Shopping-Center!
Wir kaufen nicht mehr. Wir shoppen. Eine geistige Revolte macht sich in meinem Kleinhirn groß! Ich will nicht shoppen! Ich will kaufen. Aber nur das, was ich wirklich benötige. Man sollte einen weiteren Terminus aus dem Duden streichen: Strümpfe stopfen! Wer stopft heute noch Strümpfe? Wenn man früher keine Lust zum Strümpfestopfen hatte, ging man in den Laden mit der Bezeichnung „Kurzwaren“! Wo gibt es heute noch einen „Kurzwarenladen“? Strümpfe aller Fußgrößen gibt es heute in allen Längen im „Sixpack“ z. B. bei „Aldi“, einem Lebensmitteldiscounter. Synergieeffekt pur: Man braucht die Fußbekleidungsschläuche nicht mehr zu waschen. Man kann sie nach mehrfachem Tragen einfach aufessen. Lecker! Gefüllte Strumpfroulade, überbacken mit geriebenem Fußkäse. Mir wird schlecht!
Ich will nicht shoppen. Ich will kaufen. Ich möchte dahin, wo ich weiß, was ich will. Ein anderer Terminus der längst im Duden einen festen Platz gefunden hat, heißt: REIZÜBERFLUTUNG! Man ist gewillt, etwas Bestimmtes zu kaufen und seien es Strümpfe, doch man ist nur am Gucken! Oh! Da! Ein Gurkenhobel mit integriertem Digitalgurkenkernentferner. Oder da: In Lebensgröße der Pappkamerad: der deutsche Zwölfsternekoch Lionel Coole Wampe! Seine ultimative Botschaft: Friss und stirb! Ich will aber nicht sterben. Ich will Strümpfe. Ich sehe, wie ich an der Fleischtheke zehn Kilo Gehacktes kaufe. War im Angebot. Meine nicht mehr gehorchende Hand greift ins Kosmetikregal, packt 20 Flaschen Haarwaschmittel in den Wagen. War imAngebot. Ich habe mich wieder im Griff und versuche, die Getränkeabteilung zu umfahren. Plötzlich blockiert das linke Vorderrad. Nach einer weiten Rechtskurve stehe ich vor einer Million Bierflaschen. Obwohl ich gar kein Bier trinke, packt mich Bierdurst. Dagegen hilft nur Bier. Meinen vollen Wagen kann ich kaum noch aus eigener Kraft schieben. Da sehe ich freudig einen Rasenmähertraktor. Flugs ziehe ich meinen Hosengürtel aus Laschen und mache aus Einkaufswagen und Traktor ein Gespann.
Doch wohin nun mit den Bierkästen? Hier zeigt sich die deutsche Ingenieurskunst. Kurz über den Rädern haben die Konstrukteure eine weitere Ladefläche angebracht. Ich starte den Traktor. Das „Shopping-Center“ in eine blaue Abgaswolke hüllend tuckere ich mit meinem Gespann zur Kasse. Ich lege die Waren aufs Beförderungsband. Der Scanner beginnt zu piepen. Nach einer Nachtschicht fragt mich die Kassierin: „War’s das jetzt?“ Ich sage: Ja! Nein! Ich widerrufe! Ich habe die Strümpfe vergessen. Ich sprinte durch das „Shopping-Center“. Greife nach kurzer ökonomischer Diagnose dann ein „Tenpack“ und sprinte zurück zur Kasse. Dann will ich bezahlen. Die Kassenanzeige zeigt mir den Betrag an. Doch so viel Geld würde meine Geldbörse sprengen. Ich will mit Karte zahlen. Die Kassiererin schiebt mir das Kartenlesegerät vor die Nase. „Bitte Geheimzahl eingeben und dann mit Grün bestätigen!“ Ich drücke also „Grün“ aber es kommt „Rot“! Auf dem Display erscheint Mitteilung: Transaktion im Moment nicht möglich!
Mit einem schelmischen Grinsen artikuliert die Kassiererin: „Sie hamm wohl keen Jeld uff’s Konto!“ Ich stammele: „Dann schreiben sie bitte an!“ Darauf sie: „Hamm se ne Macke! Wir sind doch keen Tante-Emma-Laden!“ Ich wurde aufgefordert, die Waren wieder in die Regale zurückzustellen. Ich wollte doch nur ein Paar Strümpfe kaufen. Warum gibt es keine Tante Emma mehr? Hat man sie verjagt oder verhaftet? Ich fordere: Freiheit für Tante Emma! Sie hätte vielleicht doch angeschrieben. Frank Hengstmann

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