Gedanken- und Spaziergänge im Park: Ist das Kunst oder kann das weg?

Auf einem meiner letzten Spaziergänge ließ mich ein Gedanke nicht los, den ich gar nicht haben wollte, da ich schon aus Erfahrung wusste, dass ich zu keinem vernünftigen Ergebnis kommen würde. Das Ganze wurde ausgelöst durch einen Artikel in „Die Zeit“ vor einigen Wochen. Dort wurde über ein Kunstwerk von W. W. Lebedew (1891 - 1967), einem russischen Avantgardisten, berichtet. Es handelt sich um eine Materialcollage, eine Skulptur. Die Basis ist der Deckel eines schwarzen Cellokastens, worauf verschiedene Materialien ausgesetzt sind: zwei bunte tennisballgroße Kugeln, aber auch aufgemalte Flächen in verschiedenen Farben, die zum Teil die Umrisse einer Geige und auch eine Klaviertastatur andeuten. Es ist so gestaltet, dass es auch fast aussieht wie ein Mann mit Hut. Eigentlich ist es ohne Titel, wird aber auch als „synthetisches Musikinstrument“ bezeichnet und entstand Anfang der zwanziger Jahre. Es findet sich im Museum der Berlinischen Galerie in Berlin-Kreuzberg und wird mit einem Versicherungswert von etwa 300.000 Euro veranschlagt. D. h., eigentlich müsste ich schreiben: wurde veranschlagt. Jetzt ist es abgehängt und ist nichts mehr wert, denn es wurde kürzlich von einem Fachmann als Fälschung entlarvt, was auch durch Materialanalysen bestätigt wurde.
Nun ist es gewissermaßen Sperrmüll! Mich lässt dieser Vorgang nicht los. An der Assemblage hat sich nichts geändert. Kein Gramm Farbe wurde entfernt oder hinzugefügt, die Holzanteile nicht beschädigt und trotzdem ist es von einer Stunde auf die andere nichts mehr wert! Es ist der gleiche Gegenstand geblieben, nur der Name des Schöpfers stimmt nicht mehr. Ich kann mir nicht helfen, aber dieser Vorgang lässt mich an dem ganzen Kunstbegriff zweifeln. Wieso ist der gleiche Gegenstand einmal Kunst und dann wieder nicht, nur weil er nicht von einem namhaften Schöpfer stammt? Da stimmt doch etwas mit der ganzen Kunstkritik nicht! Dann sind doch alle klugen Worte, die über dieses Werk einmal gefallen sind und die seinen Wert beurteilten, nichts weiter als Schall und Rauch. Und wieder einmal stehe ich vor der Frage: Was ist eigentlich Kunst? Früher sagte man einmal: Kunst kommt von Können. Aber spätestens seit Dada darf man sich sicher sein, dass es keinesfalls so sein muss. Beispiel: vor 100 Jahren, 1917, stellte Marcel Duchamp auf einer New Yorker Kunstausstellung eine Skulptur aus, die er „Fountain“, also Springbrunnen nannte. Dabei handelte es sich um nichts anderes als um ein handelsübliches Pissoir, wie man es damals in jedem Sanitärgeschäft erwerben konnte. Das einzige, was er dazu tat, war, dass er es mit schwarzer Schrift als „R. Mutt“ signierte. Das heißt, er hat nicht einmal dieses Pinkelbecken selbst erschaffen, sondern es lediglich erworben und an einen dafür unüblichen Ort gestellt. Der wirkliche Schöpfer dieses in größeren Mengen hergestellten Pissoirs war eigentlich ein heute unbekannter Designer der Keramikfirma. Die „künstlerische“ Leis-tung bestand also lediglich in der Aufstellung und Signierung des Objektes. Und da gab es anscheinend kein Kind, das wie in dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern plötzlich ausrief: „Der ist ja nackt!“ Im Gegenteil: man findet allerlei Geschriebenes über dieses Werk.
Ich kann mir nicht helfen, aber unter Kunst verstehe ich etwas anderes. Allerdings muss ich zugeben, dass ich kein Kunstwissenschaftler bin. In meinen jüngeren Jahren sagte ich manchmal aus Spaß: „Wenn mir etwas gefällt, ist es Kitsch, wenn es mir nicht gefällt, wird es vermutlich Kunst sein“. Manchmal findet man heute in verschiedenen Museen Dinge, bei denen einem der Satz der musealen Reinigungskraft „ist das Kunst oder kann das weg?“ einfällt. Nun gibt es ja eine andere Definition von Kunst, die von Joseph Beuys, der einmal etwas rotzig sagte: Kunst ist das, was Künstler machen. Naja, so einfach kann man es sich auch machen. Allerdings verschiebt diese Definition die Fragestellung lediglich auf eine neue Frage: Wer ist dann ein Künstler? Der, der Kunst macht? Und schon drehen wir uns im Kreise.
Obwohl ich nun alles andere als ein Sachverständiger bin, liebe ich jedoch sehr vieles der bildenden Kunst. Wenn ich die Vielzahl der bildenden Künstler sehe und dabei feststellen muss, wie wenige es wirklich schaffen, berühmt und auch halbwegs wohlhabend zu werden, dann fällt mir bei diesen eine Gemeinsamkeit auf. Ob jemand in die Spitzengruppe gelangt, hängt offenbar nicht nur von seiner künstlerischen Begabung ab. Vielmehr kommt es darauf an, dass man einen bekannten und cleveren Galeristen hat und dazu noch ein oder zwei enthusiasmierte Kunstkritiker (je mehr desto besser), die einen guten Draht zu den großen Zeitungen haben. Dann ist der Weg offen für große Ausstellungen, gute Museen, hohe Preise und viele Verkäufe. In diesem Punkte muss man dem genialen Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi wahrlich dankbar sein, der alle sogenannten Kenner, Kunstkritiker und Galeristen an der Nase herumgeführt hat! Dann ist es auch fast egal, was diese Berühmten hervorbringen – es wird ihnen für viel Geld aus den Händen gerissen. Der Name zählt, nicht das Werk!
Das war vor fast 100 Jahren schon so und das ist heute immer noch so. Zwei Beispiele: in den zwanziger Jahren gab es in Deutschland sehr viele und sehr gute Malerinnen. Von denen sind heute nur noch ganz wenige bekannt, die meisten konnten sich in der damaligen Szene nicht durchsetzen. Das andere Beispiel stammt von hier und fast heute. In den letzten 20 Jahren der DDR lernte ich in Magdeburg mehrere, ganz vorzügliche Maler kennen. Es sind heute alte Männer, ihre Bilder findet man kaum in irgendeiner Galerie oder einem Museum, trotz der hohen Qualität – sie sind nahezu vergessen. Und das ist ein Jammer! Denn in ihrem Werk befinden sich so viele großartige Gemälde und Grafiken. Aber keiner fand einen tüchtigen Galeristen und die dazugehörigen Kunstkritiker, die ihnen den Weg in die neue Geschäftszeit vielleicht hätten bahnen können. Stattdessen werden in den Kunstmuseen häufiger Künstler ausgestellt, bei deren Werken weniger das handwerkliche Können, sondern mehr ein origineller Einfall Träger des Ganzen ist.
Ein Gag zählt heute mehr als das Können! Vielleicht ist das heutzutage die einzige Definition von Kunst: Kunst ist, wenn sich zwei oder mehr Menschen darüber einig sind, dass das Kunst ist. Aber sehr befriedigend ist diese Definition auch nicht. Auf jeden Fall aber sollte man sich an die Ermahnung von Erich Kästner halten: „Doch niemals dürft ihr so tief sinken, von dem Kakao durch den man Euch zieht, auch noch zu trinken!“ Paul F. Gaudi

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