Gedanken- & Spaziergänge im Park: Jahreswechsel ohne Regierung

Wir schreiben das Jahr 2018. Als Junge war solch eine Jahreszahl, die mit der Ziffer 2 beginnt zwar errechenbar, aber unvorstellbar. Zweitausender Jahreszahlen gab es nur in Zukunftsromanen. Und nun sind wir mittendrin. Eigentümlich: es gab keinen Ruck der Erdachse, keinen Sternenfall, keine Sonnenfinsternis o. ä. und doch kann man sich der Magie dieses Datums 31. Dezember nicht entziehen. Immer wieder wandern die Gedanken zu Rückblick und Ausblick, was aber keineswegs gleichmäßig verteilt ist. In meiner Jugend war vor allem der Ausblick auf das nächste Jahr, auf die Zukunft, wichtig. Was wird das nächste Jahr wohl bringen, welche Ziele beruflich oder privat werden erreicht, welche Wünsche erfüllt? Im Alter nimmt der Rückblick die viel größere Zeit ein. Der Ausblick auf die Zukunft ist nicht unbedingt erfreulich, was vor allem biologischen Gründen geschuldet ist. Und diese Aussichten sind unvermeidlich, lediglich der Zeitpunkt ist unbekannt. „Altwerden ist nichts für Feiglinge“, schrieb Helmut Karasek. Recht hatte er.

Wie war das nun 2017? Es gab eine Bundestagswahl und – womit wohl kaum einer gerechnet hat – wir haben immer noch keine Regierung. Aber mal ehrlich, vermisst die irgendjemand? Belgien hatte einmal zwei Jahre keine Regierung, die Niederlande kamen über ein Dreivierteljahr ohne aus. Alles lief weiter wie gewohnt. Keine Regierung bedeutet auch weniger Gesetze, die zum Teil nicht alle sinnvoll sind. Mir sagte einmal ein Schweizer, dass wir mit einem Parlament von Berufspolitikern schlecht dran wären, denn diese müssten immer ihre Existenz beweisen. In der Schweiz gäbe es ein Freizeitparlament, wo alle Parlamentarier einem anderen Beruf nachgingen. mit dem sie hauptsächlich ihr Geld verdienten. Sie bekämen nur etwa ein Drittel der Diäten und Sitzungsgelder wie ein deutscher Bundestagsabgeordneter. Folglich würden viele Parlamentssitzungen sie eher von der eigentlichen Arbeit abhalten und deshalb würden sie weniger Gesetze beschließen. Klang ziemlich einleuchtend. Manches Gesetz, das wirklich gebraucht würde, ist seit mehreren Legislaturperioden nie gemacht worden. Ich denke da an ein Einwanderungsgesetz. Hieß es noch vor Jahren: Deutschland sei kein Einwanderungsland. Darüber kann man heute wohl nur lachen. Oder eine Verbesserung der skurrilen Mehrwertsteuersätze. Beispiel: Medikamente. In Deutschland wurden 2016 allein durch die gesetzlichen Krankenkassen über  36 Milliarden für Medikamente ausgegeben. Davon entfallen rund 6,9 Milliarden auf den 19-prozentigen Mehrwertsteuersatz. Wir sind in Europa wohl das einzige Land, das den höchsten Mehrwertsteuersatz auf Medikamente und medizinische Gutachten aufschlägt. Der größere Teil Europas nimmt den niedrigen Mehrwertsteuersatz und bei einigen europäischen Ländern sind Medikamente überhaupt frei von der Mehrwertsteuer, was ich auch am besten fände, denn der Staat sollte nicht noch an Krankheiten verdienen.

Nun ist die AfD, nachdem sie bereits schon in den meisten Landesparlamenten ist, auch im Bundestag vertreten. Man kann über die AfD denken was man will, dafür oder dagegen sein, aber sicher ist, dass sie das parlamentarische Leben lebendiger macht. Es wird kantiger diskutiert, auch wenn das manchmal ein wahrer Eiertanz ist. Den Wähler muss es eigentlich amüsieren, wenn er in der Zeitung liest, dass ein offenbar vernünftiger Vorschlag der AfD in irgendeinem Landtag abgelehnt wird, nur weil er von der AfD kam. Später wird er etwas umformuliert von einer anderen Partei eingebracht und mehrheitlich angenommen. Das ist lächerlich. Parteien können konträre Ansichten haben; aber das dürfte sie nicht daran hindern, wie erwachsene Menschen miteinander umzugehen und auf Sachbezüge zu achten, anstatt dass ideologische Scheuklappen etwas verhindern. Der Stern schrieb am 20. Dezember, dass die AfD offensichtlich einen positiven Einfluss auf andere Abgeordneten im Bundestag hätte. Zum Beispiel, weil die AfD-Parlamentarier stets komplett und pünktlich zu den Sitzungen im Bundestag erschienen. Andere Abgeordnete folgten diesem Beispiel. Ich denke, jeder hat einmal den leeren Sitzungssaal gesehen, in dem vielleicht 30 oder 40 Abgeordnete über ein Gesetz abgestimmten.

Ja, und dann wurde Trump 2017 als Präsident der USA vereidigt. Positiv daran ist, dass uns damit vermutlich eine Friedensnobelpreisträgerin Hillary Clinton erspart geblieben ist, weil sie die erste Frau in diesem Amt gewesen wäre. So wie Obama ihn quasi als Vorleistung scheinbar dafür bekommen hat, weil er der erste farbige Präsident war. Ein Friedenspräsident war jedenfalls er nicht. Der Teilabzug amerikanischer Soldaten aus Afghanistan hat die Situation verschlimmert und das Chaos in Libyen ist vor allem dem militärischen Eingreifen der USA zu verdanken. Es scheint ein unausrottbares Vorurteil der europäischen Demokratien und der USA zu sein, dass das Modell der europäischen Demokratie für jeden arabischen oder islamisch geprägten Staat das Beste wäre. Ich glaube nicht, dass in diesen hierarchischen und zum Teil absolutistischen Systemen die Zeit dafür reif ist. Noch lange nicht.

Und dann hat Trump noch ausgerufen: „America first!“ Das war ganz schlimm. Aber genau das erwarten Amerikaner von ihm. Und wenn sie es auch nicht so direkt, plump und undiplomatisch aussprechen, so handeln andere Staatslenker, wie Putin, die chinesische Führung, die englische Premierministerin einschließlich aller ihrer Vorgänger als auch französische Präsidenten genau nach dieser Devise. Eben dafür wurden sie gewählt. Oder? Meint man, dass die neue „Lichtgestalt“ Europas Macron anders denkt? Macron weiß genau, dass er nach dem Brexit der einzige Regierungschef einer europäischen Atommacht ist und damit über einen fes-ten Platz im Sicherheitsrat verfügt. Frankreich wird für ihn über alles gehen, sonst wäre er der erste Präsident, bei dem das nicht so wäre. Ich finde das nicht schlimm. Wenn Staatschefs davon ausgehen, dass ihr Land stets das wichtigste ist, dann kann man gleichberechtigt miteinander verhandeln und die Interessen abgleichen. Über die Zukunft lasse ich mich lieber nicht aus, denn, wie es so schön heißt, sind Prognosen dann besonders schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen.

Europa muss sich neu erfinden. Die Zeit für einen Bundesstaat nach Muster der USA ist jedenfalls nicht reif. Ein Staatenbund ist derzeit das einzig Machbare. Dass Europakritiker etwas gegen Europa hätten, bleibt eine Unterstellung, aber sie haben etwas gegen eine überall hineinregierende Brüsseler Bürokratie. Das greift in die nationale Souveränität ein, wobei man noch bedenken muss, dass es eine gewählte europäische Regierung ja gar nicht gibt. Der Euro ist für mich als Tourist eine wunderbare Sache – aber geht eigentlich eine Währungsunion ohne eine gleichzeitig bestehende Sozialunion mit gleichen oder zumindestens sehr ähnlichen Sozialgesetzen? In der deutschen Geschichte hatten wir zweimal eine Währungsunion 1871 und 1990. Beide Male ging die Währungsunion mit einer Sozialunion einher. Ohne gleiche Sozialgesetze gibt es einen Sozialtourismus in Länder mit besseren sozialen Standards, mit zum Teil skurrilen Folgen. Ich denke da an das Beispiel eines Arbeitnehmers aus dem Balkan, der in Deutschland das Kindergeld in der Höhe deutscher Gesetze bekommt, obwohl seine Familie mit den Kindern in einem Balkanstaat lebt. Es bedarf vieler neuer Regelungen. Für eine neue Regierung, wenn es sie denn einmal ohne Neuwahlen gibt, gäbe es viel zu tun. Paul F. Gaudi

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