Gedanken- & Spaziergänge im Park: Ach du liebe Zeit

Kürzlich las ich einmal wieder im Alten Testament den Text des Predigers Salomo, den übrigens auch die Puhdys für ein Lied benutzten:

Ein jegliches hat seine Zeit,
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde:
geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit;
pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit;
töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit;
abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;
weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit;
klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit;
Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit;
herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit;
suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit;
behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit;
zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit;
schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;
lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit;
Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.

Wir reden oder denken vermutlich mehrmals am Tage über die Zeit. „Ich habe keine Zeit“ oder „ich habe heute Zeit“ für dieses oder jenes. Aber wenn ich mich frage, was ist denn eigentlich die Zeit, dann gerate ich schon in das Stocken. Gut, es ist eine physikalische Größe, man kann mit ihr rechnen. Die Wirtschaft, der Verkehr, die Arbeit, ja unser ganzes Leben ist danach und von ihr eingeteilt, also gibt es sie. Das wird niemand bestreiten. Aber weiß ich denn wirklich über sie, über die Zeit, was sie ist? Ich kann Zeit nicht schmecken, nicht hören, nicht sehen, nicht fühlen und nicht anfassen. Ja, wir können die Zeit nicht einmal direkt messen, so wie man zum Beispiel eine Menge abwägen kann. Wir messen die Zeit nur indirekt, indem wir die Menge der Sandkörner in einer Sanduhr messen oder dass wir eine Bewegung messen – zum Beispiel die Bewegung des Zeigers auf dem Ziffernblatt einer Uhr oder die scheinbare Bewegung der Sonne oder des Mondes am Firmament. Und von dem Messen dieser verschiedenen Abstände des sich bewegenden Gegenstandes schließen wir auf die Zeit, die vergangen ist. Das ist nach allen unseren Erfahrungen auch richtig und führt zu überprüfbaren Ergebnissen – aber die Zeit, die wirkliche Zeit selbst können wir nicht messen. Ja wir wissen nicht einmal, ob die Zeit vergeht oder kommt oder ob sie nicht vielmehr einfach da ist. Zieht die Zeit an uns vorüber, wie der ständige Strom eines Flusses? Oder bewegen wir uns an der Zeit entlang und die Zeit steht wie ein stabiler Strang von einer Ewigkeit zur andern Ewigkeit. Vielleicht weiß noch jemand, dass in früheren Zeiten auf den Flüssen die Kettendampfer fuhren. Auf dem Grunde des Flusses lag eine sehr, sehr lange Kette, die von dem bergauf fahrenden Dampfer über eine Welle aufgenommen wurde und am Heck wieder heruntergelassen wurde. Das Schiff zog sich an dieser Kette gewisser-maßen bergauf.  Ziehen wir uns in unserem Leben gewissermaßen auch an einer Kette entlang, deren einzelne Glieder wir jeweils Gegenwart nennen, einem unbekannten Ziel entgegen? Sozusagen von einer Gegenwart zur nächsten Gegenwart?

Wir teilen unsere Zeit ja in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ein. Die Vergangenheit ist das, was hinter uns liegt und dessen wir uns, wenigstens teilweise und oft sehr subjektiv erinnern können. Zukunft liegt vor uns und ist uns von der Erfahrung her noch unbekannt. Sie ist der Ort der Hoffnungen und Befürchtungen. Soweit ganz einfach. Aber was ist nun eigentlich die Gegenwart? In dem Moment wo ich diesen Satz dachte - ist er schon Vergangenheit! Und nicht mehr Gegenwart. Die wirkliche Gegenwart scheint unheimlich, fast unmessbar klein zu sein, denn kaum ist sie da, vergeht sie sofort und wird Vergangenheit! Eine Sternschnuppe ist fast länger am Himmel zu sehen als der Moment der Gegenwart. Es kann ja sein, dass das fast unnütze Gedanken sind, „ohne Nährwert“  würde meine Großmutter sagen, aber vielleicht doch bedenkenswert.

Leibniz schreibt: „Die Zeit ist die Ordnung des nicht zugleich Existierenden. Sie ist somit die allgemeine Ordnung der Veränderungen.“ Das klingt einleuchtend, aber bin ich deshalb wirklich klüger? „Zeit ist eine Erscheinung, die sich in Form von Tag und Nacht darstellt.“ schrieb Sextus Empiricus im 2. Jahrhundert, aber bringt uns das weiter?

Augustinus schrieb in seinen Confessiones:  „Was also ist ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.“ Dieser Satz kommt meinem Gefühl der Zeit gegenüber deutlich näher.

Und warum ist die Wahrnehmung der Zeit so unterschiedlich in unserem eigenen Leben, in unseren Lebensabschnitten. Rasend schnell ist die Zeit vorbei, wenn wir in einer angeregten und zufriedenen Runde miteinander sind. Scheinbar lang und ewig erstreckt sie sich bei einem langweiligen Vortrag. Als ganz furchtbar empfinde ich, dass die Wahrnehmung der Zeit im Alter meist davon geprägt ist, dass Tage und Wochen, ja Monate, rasend schnell vorübergleiten. Ehe man sich versieht, ist schon wieder ein Jahr um. Als Kind dagegen schien die Zeit vom 20. Dezember bis zum Heiligen Abend überhaupt nicht zu vergehen! „Wenn die Zeit kommt, in der man könnte, ist die Zeit vorüber, in der man kann.“ sagte Marie von Ebner Eschenbach. Manchmal sprechen wir eher von einer Beschäftigung als von einem Zeitvertreib. Eigentlich ein schlimmer Begriff, denn haben wir so viel Lebenszeit, dass wir sie auch noch vertreiben möchten? Wohl kaum, denke ich. Auch Seneca schrieb dazu: „Nein, nicht gering ist die Zeit, die uns zu Gebote steht; wir lassen nur viel davon verloren gehen!“

Die Zeit erscheint wie ein riesiger feststehender ewiglanger Fels, neben dem alles andere herum winzig und in ständiger Bewegung ist. Ist die Zeit ewig? Und noch zaghafter gefragt: ist die Zeit vielleicht Gott? Oder eine Erscheinungsform von Gott?

Mir ist bewusst, dass diese Gedanken höchst unfertig sind. Es ist ein Versuch über etwas nachzudenken, was eigentlich nicht zu fassen ist. Daher muss er notwendigerweise unvollkommen sein. Trotzdem aber ist die Zeit etwas, über das es sich lohnt nachzudenken, denn wir alle sind immer mitten in der Zeit. Letztendlich ist unsere Lebenszeit eigentlich das Einzige, was wir wirklich haben.

Wie oft sagten oder dachten wir schon: „die Zeit vergeht“. Was für ein Irrtum! Nicht die Zeit vergeht – wir sind es, die vergehen. Die Zeit bleibt. Paul F. Gaudi

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