Depressive Grenzenlosigkeit

Der Krebs ist die Schreckenskrankheit schlechthin. Aber Deutschland wird zunehmend von einer anderen Epidemie des Grauens ergriffen – von psychischen Störungen. Mittlerweile hat der seelische Unfrieden alle Altersgruppen erfasst. Krankenkassen und andere Experten verkünden Rekordzuwächse und mahnen zum Umdenken gegen die modernen Stressfaktoren unserer Zeit. Ein kritischer Betrachtungsversuch wider eine Selbstpathologisierung.

Spitzenleistungen, Rekorde und Superlative – das ist der Stoff für Geschichten, die gern erzählt werden, im Positiven wie im Negativen. So eilte Deutschland in den vergangenen Jahren von einem Rekord im Außenhandelsüberschuss zum nächsten. Erst im Januar wurde für 2017 wieder die Exportweltmeisterschaft für die Nation verkündet. Doch es gibt einen anderen Bereich, in dem wir Deutschen offenbar ebenso eine Vormachtstellung in der Welt einnehmen wollen – nämlich bei den psychischen Erkrankungen. Hier klettern die Angaben von Jahr zu Jahr auf neue Höchststände.

„Aktuelle Zahlen zur Verbreitung psychischer Erkrankungen in Deutschland bei Erwachsenen zwischen 18 und 79 Jahren zeigen, dass nahezu jede vierte männliche (22,0 Prozent) und jede dritte weibliche (33,3 Prozent) erwachsene Person im Erhebungsjahr zumindest zeitweilig unter voll ausgeprägten psychischen Störungen gelitten hat“, heißt es in der Zeitschrift „Psychiatrische Praxis“. Ende 2017 schlug auch die Techniker Krankenkasse Alarm: „Die Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen ist in den letzten zehn Jahren in Sachsen-Anhalt deutlich stärker gestiegen als im Bundesmittel und lag 2016 erstmals über dem deutschlandweiten Durchschnitt. Wie der aktuelle Gesundheitsreport der TK belegt, sind im Bundesland mittlerweile fast 15 Prozent aller Fehltage psychischen Erkrankungen geschuldet.“ Mit Belegen für eine epidemische Ausbreitung pathologischer Seelenzustände können alle Krankenkassen aufwarten. So weiß auch die DAK, dass die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen einen neuen Höchststand erreichten. Die Kasse registrierte allein für 2016 rund 246 Ausfalltage je hundert Versicherten aufgrund von Seelenleiden. Frauen seien dabei deutlich häufiger betroffen. Die Zahl der Fehltage aufgrund solcher Diagnosen hätte sich damit in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdreifacht.

Ende Mai trug die Barmer in ihrem aktuellen Arztreport vor, dass verstärkt junge Erwachsene unter psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angstörungen oder Panikattacken leiden würden. „Nach Analysen der Barmer-Krankenkasse sind in Sachsen-Anhalt mindestens 40.500 junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren von psychischen Störungen betroffen“, heißt es in der Presseinformation der Kasse. Landesgeschäftsführer Axel Wiedemann verweist darauf, dass mittlerweile selbst die bis dato als weitestgehend gesund geltende Gruppe der Studenten zunehmend von solchen Beeinträchtigungen betroffen seien. Im Land wären das rund 9.500 Studenten.

Wir müssen also einen tiefen Blick in das Räderwerk in der Gesellschaft werfen, um die Ursachen für diese Entwicklung zu erkennen. Natürlich hat man bei Krankenkassen und anderen Experten, die das Phänomen psychischer Störungen aufzeigen auch Erklärungen für ein bröckelndes Seelenheil parat. Steigender Zeit- und Leistungsdruck, finanzielle Sorgen und Zukunftsängste bzw. eine Art Ohnmacht vor der Grenzenlosigkeit an Möglichkeiten als auch Verwirrung über die Komplexität eines nicht mehr zu verstehenden Lebens könnten sich negativ auf den Geisteszustand junger Menschen auswirken. Zusammengefasst dürfte man konstatieren: die Schattenseiten des Lebens verdunkeln Hoffnungen, nehmen Zielen und Zukunft das Licht. Insgesamt würden dem Menschen der Gegenwart Leistungen abgefordert, unter denen Versagensängste und Vereinsamung zunehmen und Konfliktbewältung vielfach scheitert. Man kann das so sehen und gewiss würden das in der Reflexion über die Vielzahl möglicher Stressfaktoren manche fett unterstreichen.

Doch man muss nicht nur einen Blick auf die knirschenden Zahnräder werfen, sondern ebenso auf die Konstruktion selbst, um das Ausufern einer psychischen Störungsflut zu begreifen. DSM steht für „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“. In den USA wurde es 1952 erstmals herausgegeben. Bis 1980 waren die jeweiligen Ausgaben kleine Bücher, die nur von wenigen gelesen wurden. Doch als das DSM-III erschien, das seither auch in der deutschen Ausgabe als „Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen“ erscheint, wurde das Buch ein dicker Kultgegenstand und Dauerbrenner. An der Genese dieser „Bibel“ der Psychiatrie und Psychotherapie ließe sich nachvollziehen, wie die Schwelle für leicht zu diagnostizierbare Störungen nach und nach abgesenkt wurde. In der Folge beschriebener Diagnosen wurden vielversprechende neue Patientenzielgruppen erschlossen, unter denen ganz normale menschliche Zustände pathalogisiert und völlig neue Krankheiten erfunden wurden.

Der Aufwuchs diagnostischer Möglichkeiten korreliert natürlich mit einer flächendeckenden Versorgungsdichte psychotherapeutischer Praxen. Nun darf man die eine Seite der Entwicklung nicht vom wachsenden Bedürfnis des Menschen nach wissenschaftlich bzw. ärztlicher Problembenennung abkoppeln. Selbstverständlich erscheint es beruhigend, wenn eine schwer fassbare Verdüsterung emotionaler Zustände einen fachärztlichen Namen bekommt und eine Problemerscheinung damit in einen möglichen natürlichen Ursachenkomplex eingebettet werden kann.

Aber zurück zu den heute vielfach genannten gesellschaftlichen Ursachen und Herausforderungs-Dämonen eines psychisch erdrückenden Lebenswandels. Zeit- und Leistungsdruck der Ausbildungs- und Arbeitswelt müssen vorrangig als eine Art Hölle herhalten, in der der moderne Zeitgenosse offenbar seelisch verbrennt. Übrigens soll hier kein wirklicher seelischer Leidensdruck und psychische Persönlichkeitsstörungen verharmlost werden. Juliane Haase von der Psychosozialen Studierendenberatung an der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität sieht den Studienbeginn für junge Menschen als eine „krisenhafte Phase“ an. Netzwerke zu einstigen Schulfreunden würden wegbrechen, Versagensängste und Unzulänglichkeitserfahrungen fördern Frustation, mündeten in Rückzug, sinkende Sozialkontakte und schließlich in Isolation. Außerdem würden eine ständige Verfügbarkeit in sogenannten „sozialen Netzwerken“ und Ansprüche, sich dort den Maßstäben der Altersgruppe gegenüber zu behaupten, einen psychischen Teufelskreis weiter verengen. Solche Einflüsse sind natürlich nicht von der Hand zu weisen. Allerdings standen Generationen zuvor vor ähnlichen Herausforderungen und Problemen. Ob unter aktuellen Gesichtspunkten tatsächlich eine zunehmende Beschwernis auszumachen ist oder ob möglicherweise junge Menschen innerhalb ihres bisherigen Lebensweges vielleicht nicht die nötige Stabilität für Selbstorganisationskräfte, Leistungsfähigkeit, Lösungskompetenzen und Konfliktbewältigungsstrategien mitbrachten, bleibt in fast allen Ursachenbenennungen auf der Strecke.

Eine Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin berichtet von „Problemkindern“, bei denen Eltern die Zeiten für die Smartphonenutzung nicht mehr kontrollieren könnten. Selbst das Wegnehmen des Gerätes würden sie scheuen, weil das Kind dann für sie unerträglich schreien würde. An einem Magdeburger Gymnasium sollten Sechstklässler im vergangenen Jahr wegen hoher Temperaturen hitzefrei bekommen und nach Hause gehen. Die Lehrer mussten den Unterricht schließlich fortführen, weil ein großer Teil ihrer Schüler den Heimweg gar nicht kannte.

Es gibt selbstverständlich Eltern, die ihren Sprösslingen hohe Anforderungen abverlangen, genauso wie es solche gibt, die Erziehungsverantwortung nicht in dem Maße leisten, wie es für Heranwachsende nötig wäre. Allerdings sind es eben stets die Eltern, die Maßstäbe für Leistungsfähigkeit vorleben und fordern müssten, die Grenzen ziehen und Orientierung geben sollten. Man darf vermuten, dass die Komplexität des Lebensalltags selbst Erwachsene zusehens überfordert. Man muss aber andererseits auch auf solche Erscheinungen schauen, dass die Suizidrate in Deutschland seit 1991 fortwährend rückläufig ist. Registrierte man 1991 noch rund 14.000 Selbsttötungsfälle waren es 2015 nur noch 10.000.

Es erscheint ebenfalls verengt, wenn Arbeits- und Ausbildungswelten als alleinige Stress- und Leistungsdruckgründe angeführt werden. Statistisch sinkt die durchschnittliche Arbeitszeit in Deutschland seit Jahrzehnten. In solchen Berufsgruppen, in denen bei geringen Löhnen lange gearbeitet werden muss, sind übrigens psychische Störungen weit weniger feststellbar als in Branchen mit geringerer Arbeitszeit, geregeltem Urlaub und sicheren Arbeitsplätzen. Freizeitpotenziale, privates Verhalten stehen gesellschaftlich kaum auf dem Prüfstand. Es bleibt der Eindruck, dass die bösen Seiten des Lebens aus der Arbeit kommen, obwohl Menschen mit zeitlichem „Grübelpotenzial“ deutlich häufiger als psychisch gestört auffallen, als die Mehrzahl geforderter Arbeitnehmer oder Unternehmer. Hier hilft vielleicht manchmal der Ausspruch des Philosophen Friedrich Nietzsche: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Möglicherweise ist es eben nicht ein schwerer werdendes Leben, sondern unsere veränderten Bewertungen, die es nur schwerer sehen wollen. Folgte man den Wohlstandsverheißungen unserer Zeit müsste es uns existenziell und seelisch so gut wie nie zuvor gehen. Das veröffentlichte Verständnis über den Seelenzustand der Nation zeigt indes in Richtung einer chronischen Verbitterungsstörung. Aber wer keinen Horror hat, holt ihn sich eben über eine Schreckensnachrichtenflut ins Leben. Die Vorstellung von Grenzenlosigkeit, die Vielfalt an Lebensentwürfen und Karrierechancen – also alles, was eigentlich proklamiertes Ziel dieser Gesellschaft sein sollte und für ein besseres Leben steht – schafft am Ende mehr Depressionen. Wer’s glaubt, sollte vielleicht einen Therapeuten konsultieren. Thomas Wischnewski

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