Offensive gegen die Verwitterung

Hinter den Mauern, unter dem dichten Dach der Baumkronen wirken die Geräusche der Stadt gedämpft. Die vorüberfahrende Straßenbahn, die zahlreichen Autos, das Stimmengewirr der Menschen – nichts davon scheint auf den Friedhof zu dringen. Es liegt wohl daran, dass dies ein Ort der Besinnung, der Trauer, des Gedenkens, der Stille ist. Ein Ort, um den eigenen Gedanken nachhängen und andere Einflüsse ausblenden zu können. Abgeschirmt und entlegen, doch zugleich mitten im Leben. Ein Ort von Menschen gemacht, der – ohne viel Zuwendung – wieder von der Natur vereinnahmt würde. Baumwurzeln, die gegen Grabplatten drücken. Efeu, der Denkmale umrankt. Moos, das sich auf den Inschriften der Gedenktafeln breitmacht. Der Lauf der Dinge eben …

Ganz so einfach nimmt der Magdeburger Lutz Kaufmann diese Dinge allerdings nicht hin. „Dass ein Denkmal errichtet wird, geschieht doch aus einem bestimmten Grund. Um Menschen und ihre Leistungen zu würdigen, um sie zu ehren, um ihrer zu gedenken. Wenn eine Erinnerungsstätte dem Verfall überlassen wird, ist das eine traurige Sache“, meint der 72-Jährige. Er hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, dort nachzuhelfen, wo Erinnerungen verblassen, und restauriert ehrenamtlich verwitterte Inschriften. Vor allem Soldatengräber liegen ihm am Herzen. „Das waren oft junge Männer, die sinnlos verheizt wurden“, sagt er und wirkt dabei sehr nachdenklich. Vielleicht liegt das auch an seiner eigenen Vergangenheit. Denn Lutz Kaufmann stammt aus einer Offiziersfamilie, war selbst Offizier der Nationalen Volksarmee und ausgebildeter Sporttaucher. Sein Interesse galt jedoch schon früher der Kunst – und dabei vor allem der Ornamentik und der Schrift. „Deshalb habe ich an der Kunstgewerbeschule studiert und mich auf die Restaurationsmalerei konzentriert“, erzählt der Magdeburger, während er in einem Album blättert, in dem all seine Projekte dokumentiert sind.

Dass sich der 72-Jährige in seiner Heimatstadt ehrenamtlich für die Erhaltung von Grab- und Denkmalinschriften engagiert, hängt mit einem ungeklärten Mordfall aus dem Jahr 1927 zusammen. Der Kraftdroschkenfahrer Walter Wittig wurde damals von einem Unbekannten auf dem Weg von Leipzig nach Magdeburg – kurz vor seiner Ankunft – im Biederitzer Busch angeschossen und erlag später seinen Verletzungen. Ebendort wurde ein Denkmal errichtet, das allerdings in Vergessenheit geriet und nicht mehr gepflegt wurde, bis der Magdeburger Hans Jaintzyk das Ehrenmal vor mehr als 50 Jahren zufällig entdeckte. „Meine Frau hat vor etwa einem Jahr einen Bericht in der Zeitung gelesen, dass Hans Jaintzyk den Gedenkstein ehrenamtlich pflegt, ihn regelmäßig von Unkraut befreit und Blumen ablegt. Sie war davon so berührt, dass sie den Anstoß gegeben hat, mich der Inschrift des Denkmals zu widmen“, schildert Lutz Kaufmann. Also zog er los in den Biederitzer Busch – mit seiner Frau und seinen Utensilien. Reinigte, grundierte, bemalte und versiegelte mit seiner eigenen Technik die Schrift auf dem Denkmal, sodass sie wieder lesbar war. Nur die Initialen L. K. hinterließ er, was kurzzeitig für Aufregung sorgte. „Das Rätsel habe ich dann recht zügig aufgelöst, bevor irgendwelche Gerüchte verbreitet und Probleme heraufbeschworen werden.“

Die Anerkennung, die Lutz Kaufmann für die ehrenamtliche Restauration des Walter-Wittig-Gedenksteins entgegengebracht wurde, regte ihn dazu an, sich noch weiteren Inschriften zu widmen. Nicht immer ohne Komplikationen, wie er zugibt. „In einem Fall beispielsweise hätte ich vorher mit der Denkmalpflege reden müssen … aber aus diesem Fehler habe ich gelernt“, sagt der Magdeburger, der sich meistens im Stil der 1920er Jahre kleidet. In einem anderen Fall zog er den Zorn von Angehörigen auf sich. „Dabei ging es um das Grab des Schwimmers Arno Bieberstein. In ‚Magdeburg Kompakt‘ hatte ich ein Foto vom verwitterten Grabstein entdeckt und Verbindung zu den für den Westfriedhof zuständigen Personen aufgenommen, mit der Bitte, bei der Suche nach Angehörigen zu helfen, um mit ihnen das mögliche Projekt zu besprechen.“ Doch als er nach mehreren Monaten keine Rückmeldung erhalten hatte, handelte Lutz Kaufmann auf eigene Faust. „Das ist allerdings nach hinten losgegangen. Die Angehörigen waren wenig erfreut, dass ich die Inschrift wieder lesbar gemacht habe und unterstellten mir, mich am Denkmal vergriffen zu haben.“ Dabei sei dies lediglich in guter Absicht geschehen.

Doch auch daraus hat Lutz Kaufmann gelernt. Der 72-Jährige gibt lediglich Denkanstöße und Anregungen – an Gedenksteinen oder Grabplatten legt er nur noch Hand an, wenn er darum gebeten wird. So restaurierte er in Absprache mit Stefanie Warnstedt, Leiterin der Friedhofsverwaltung, zwei Psalmplatten am Eingang des Neustädter Friedhofs und erneuerte die Inschriften auf dem Gedenkstein für gefallene TuS-Sportler sowie auf dem Denkmal für den Komponisten und Chorleiter Werner Nolopp. Ebenfalls auf dem Neustädter Friedhof befindet sich die Grabanlage der Familie Hauswaldt, deren Kreuze und Platten Lutz Kaufmann gereinigt und deren Inschriften in Gold er wiederhergestellt hat. „Die Hauswaldts waren eine bedeutende Magdeburger Unternehmerfamilie, die sich vor allem in der Zichorien- und in der Schokoladenindustrie einen Namen gemacht hatte“, erklärt der Rentner. „Und die Grabanlage ist ihnen nicht gerecht geworden. Denn was nützt das beste Denkmal, wenn man dessen Inschrift nicht entziffern kann?“

Der 72-Jährige sieht zufrieden aus, während er über das bislang Erreichte spricht. Doch er plant noch weitere Arbeiten – beispielsweise auf dem Israelitischen Friedhof in Absprache mit der Synagogen-Gemeinde zu Magdeburg. „Das macht mir viel Spaß und hält mich fit. Außerdem kann ich der Stadt auf diese Weise etwas geben. Warum sollte ich also zu Hause auf dem Sofa sitzen, wenn ich etwas Sinnvolles tun kann“, fragt Lutz Kaufmann und fügt an, dass er dies auch für seine Ehefrau Ursula mache. „Sie begleitet mich bei meinen Arbeiten und sie ist der Motor, der mich antreibt.“ Tina Heinz

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