Kanadischer Sommer

Leseprobe aus dem jüngsten Buch von Renate Sattler

Sonnabend, 22.7.
Two Eagles Mountain in Saint-Michel-des Saints in den Laurentian Mountains

Um 9.00 Uhr holt uns Patricia Eshkibok von Paulines Haus ab. Sie ist eine Ojibwa aus Manitoba. Mit ihrer gebogenen Nase und dem bis zu den Hüften gleitenden, schwarzen Haar sieht sie wie eine Indianerin aus, die George Catlin gemalt haben könnte. In Kahnawake regnet es, als wir abfahren und wir hoffen, dass es bald aufhört. Patricia lotst uns über Montreal in Richtung Norden. Zweieinhalb Stunden fahren wir auf dem Highway 131 bis an dessen Ende an kleinen Ortschaften, weitgestreckten Feldern und Wäldern vorbei. An der Tankstelle in Saint-Felix-de-Valois hält sie und sagt: „Jetzt haben wir die Hälfte geschafft.“ Es ist der letzte Laden vor der Wildnis. Nach einer kurzen Pause geht es weiter bis zu einem Sumpf, der vielen Bäumen das Leben aussaugte. Wir verlassen den Highway und biegen auf eine schmalere Straße ab, die bergwärts führt, wo Bär und Adler wohnen. Diese Straße mit dem Namen St. Michel des Saints heißt auch noch so, als sie zu einer Piste aus roter Erde wird, die unsere Autos aufwirbeln, dass wir nur noch eine Staubwolke sehen.

Von der Piste zweigt ein Weg ab, an dem zu beiden Seiten ein Geländer steht, dessen Endpfosten in Adlern auslaufen. „Miss Turtle“ – so nennt Patricia ihren roten Wagen – hält vor einer hölzernen Mohawk-Familie. Der Mann trägt Lendenschurz und Mokassins. Über seiner Schulter hängt der Köcher. Seine Frau steht neben ihm im Lederkleid. Auf dem Rücken ruht ihr Baby in der Kindertrage. An der Gabelung müssten sie sich entscheiden, ob sie nach Montreal wollen oder in die Wildnis. Sie kommen aus der Zeit des Jägers und der Maisbäuerin und werden auf die Piste aus roter Erde blicken, bis aus ihr eine Straße geworden ist.

Auf der Veranda des Holzhauses erwartet uns Gilles Dorais, Sohn einer Mohawk und eines französischen Missionars. Stämmig und schätzungsweise einsneunzig ist er. Seine großen, dunkelbraunen Augen bannen mich, Augen, die hinter die Dinge und im Holz den Adler sehen. Meine schmale Hand verschwindet in seiner. Nachdem wir unsere Sachen abgestellt haben, laden uns Patricia und Gilles zu einem Spaziergang ein.

Hinter dem Haus steigen wir steil einen Pfad zwischen Steinen und Bäumen hinab. Ich halte mich am Stamm einer jungen Birke fest. Zuerst kommen wir an dem Tepee vorbei, das als erste Herberge während der Bauzeit des Hauses diente. Patricia sagt: „Vor fünf Jahren waren wir die einzigen hier.“ „Mit meinen Händen habe ich dieses Haus geschaffen“, ergänzt Gilles stolz. „Jetzt gibt es rechts und links Nachbarn. Neue Häuser sind im Bau.“ Wir hören die Säge. Gilles Schäferhündin begleitet uns. Sie nimmt ein Bad im reißenden Fluss. Wir gelangen an die Steilwand aus großen Felsbrocken, von denen wir die Aussicht auf die Stromschnellen genießen. Kanuten paddeln vorbei, von denen sich einer in dem Strudel dreht. Plötzlicher Regen zwingt uns zum Rückzug. Unter dem Dach der Veranda schauen wir dem Regen zu, atmen die reine Luft des Waldes ein und sehen den Nebel aus den Bergen steigen.

Ich schaue mir die Pfosten auf der Veranda an. In den linken ist der Kopf einer Frau, in den rechten der eines Mannes geschnitzt. Jeder von ihnen wird von einem Adler beschützt. Beinahe wäre ich über einen Wolfskopf aus grauem Stein gestolpert. Nun sehe ich ihn mir genauer an und entdecke auf der anderen Seite die Schildkröte.

„Ich werde erst mal Feuer machen, an dem ihr euch aufwärmen könnt“, sagt Gilles. Wir schauen ihm beim Feuermachen zu. In mir steigt ein Bild aus der Kindheit auf: Großmutter kniet vor dem Ofen und bringt Holz mit Papier zum Brennen.

Wir treten in einen schmalen Korridor ein. Tiger kommt durch die Katzenklappe. Er ist ein großer schwarz-weißer Kater mit grünen Augen, der sich von mir streicheln lässt und mein Freund wird.

Schneeschuhe hängen an der Wand. Auf einem kleinen Tisch steht eine Elchschaufel, in die ein Wolf geschnitzt ist, der den Mond anheult. Wir kommen an einem großen Weißkopfseeadler vorbei, bei dem ich jede Feder im Holz spüren kann. Neben ihm sitzen zwei weiße Junge mit aufgesperrten Schnäbeln im Horst, der aus einer Baumwurzel besteht. Eine Arbeit, die ich immer wieder anschauen und berühren muss. Aus dem Geweih des Hirsches erhebt sich ein Adler. Auf dem Tisch duftet die Suppe, die Gilles aus den Gaben des Waldes zubereitet hat …

Besuch der Tuscarora-Reservation in den USA

Prof. Jolene Rickard fährt mit uns auf die Tuscarora-Reservation am Wasserkraftwerk entlang. Die grauen Gebäude und hohen Stahltürme sind Störenfriede in der Flusslandschaft zwischen den bizarren Felsen am grünen Wasser des Niagara. Bruchstückhaft können wir den Stausee erkennen, der auch in Wirklichkeit so unnatürlich eckig ist. Die Tuscarora haben protestiert, Unterschriften gesammelt. Es hat nichts genutzt. Die Hälfte der Bewohner musste umziehen. Sie sagt: „Wir bekommen keine staatliche Unterstützung zum Hausbau wie die Mohawk in Kahnawake. Wir haben nur eine Schule, die vom Staat zwar finanziert wird, aber mit sehr geringen Mitteln.“

Die Tuscarora-Reservation umfasst nur wenige Straßen, einige Gehöfte und Wald, insgesamt zehn Quadratmeilen. Zweitausend Menschen leben hier. Die Häuser stehen nicht so dicht beieinander wie in Kahnawake. Wald und Wiesen erstrecken sich zwischen ihnen. Wege ohne die Spur eines Menschen. Wir kommen an gepflegten Häusern, aber auch an verfallenen Hütten vorbei. Als ich den Wohnwagen sehe, fällt mir Lance Hensons Gedicht über die Cheyenne in Oklahoma ein, in dem es heißt: „Manche ziehen ihre Kinder in Autos auf“.

Jolene lenkt ihren Van vor ein gebrechliches Haus auf die Wiese, einem der Normbauten, die das Buerau of Indian Affairs auf die Reservationen in den USA gestellt hat. Jolene ruft ihren Onkel und schaut nach, ob er zu Hause ist. Er kommt in Arbeitshemd und ausgewaschenen Shorts. Er ist freundlich und bittet uns in seine Küche, in der wir keinen Platz zum Sitzen finden, weil sie so klein ist. Auch das Wohnzimmer ist eng und vollgestopft mit halbfertigen Irokesenkappen, an denen er arbeitet. Er führt uns an einer Stehlampe vorbei, deren Schirm auf dem Kopf eines Indianers ruht.

Der Onkel hat einen langen Pferdeschwanz und in seinen schwarzen Augen das Universum. Es gibt Menschen, die wie ein warmes Licht von innen leuchten. Solch ein Mensch ist dieser Onkel. Er holt eine kleine Dose, in die er jeden von uns blind hineingreifen lässt. Jeder spürt einen winzigen Stein in seiner Hand. Ich habe einen Jaspis erwischt. Glück sollen uns die Steine bringen. Dann holt er eine andere, etwas größere geflochtene Dose und hält sie ebenfalls hoch. Ich soll hineingreifen und halte eine Kette in der Hand. „Das ist der Geschichtenkorb. Jedes Stück darin erzählt eine Geschichte. Derjenige, der die Kette erhascht, muss die Geschichte vom Universum erzählen. Das Universum ist ein Langhaus. Wir glauben, dass alles miteinander verbunden ist“, sagt er und zieht einen uralten Zahn heraus, den ihm ein Inuit schenkte. Der Zahn erzählt eine Inuitgeschichte. In ein Mammutzahnstück ist ein Mammut geritzt ... Der Onkel erzählt von Großmutter Mond und dem älteren Bruder Sonne. Dann nimmt er eine Baumrindenrassel und singt das Lied zum Rauchtanz, dessen Schritte er in seiner winzigen Küche macht. Danach sagt er: „Wir danken allem. Wir danken der Erde, wenn wir ernten, danken für das Tier, das wir essen. Wir danken auch den Franzosen, dass sie kamen …“

Er nimmt die Schildkrötenrassel – aus dem Panzer der großen Schnappschildkröte – von der Wand und singt den Frauentanz.

Kanadischer Sommer

Renate Sattler
ISBN:9783868411959
Taschenbuch
160 Seiten
Verlag Edition AV
Preis: 16,00 Euro

Kanadischer Sommer ist mehr als das literarische Tagebuch einer Reise an den St.-Lorenz-Strom, in die Wildnis der Laurentian Mountains, zu den Niagarafällen und in die Appalachen. Entstanden ist das Buch auf der Basis einer langjährigen Zusammenarbeit der Autorin mit indigenen Völkern und ihren Organisationen, aus der zu einigen Mohawk in Kahnawake und der Direktorin der „Lenni Lenape Historical Society“ in Allentown Freundschaft wurde. Eingeladen von diesen Partnern reiste sie mit einer kleinen Gruppe des „Arbeitskreises Vierte Welt e. V.“ nach Kanada und in die USA. Renate Sattler gibt einen Einblick in die Geschichte, Lebensweise und Gegenwart der Six Nations vor allem am Beispiel der Mohawk. Besonders geht sie auf das Demokratiesystem und die herausragende Rolle der Frau als politische Kraft ein. Ebenso stellt sie die Delaware vor, die in Pennsylvania offiziell nicht existieren, weil sie nicht auf einer Reservation leben. Authentisch wird dieses Buch vor allem, weil die Gastgeber selbst zu Wort kommen.

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