Wohltemperiert ins Weihnachtsfest

Weihnachten, „das Fest des Jahres“, wie das bei den Älteren immer so schön heißt. Also von wegen „Fest des Jahres“, bisher ist es immer ein einziger Stress gewesen. Letztes Jahr zum Beispiel, nichts war so, wie es hätte sein sollen. Vor allem die Streiterei. Fehlte bloß noch, dass Mutti …, also wie sie die Weihnachtsgans, heiß und triefend, gepackt hatte und damit in Richtung Opa Rudi zielte! Nur weil der wieder rummeckern musste. Alle waren aufgesprungen. Zwar schien Mutti dann zu lachen, aber wie sie dabei guckte, derart verbissen. Durchgedreht ist sie doch wohl nur, weil ihr die Armbanduhr, die Vati für sie ausgesucht hatte, nicht gefallen wollte. Trist sähe sie aus und irgendwie billig. Und dafür wäre das Ding viel zu teuer. Warum Vater ihr überhaupt den Preis nennen musste? Dass die Gans nicht weich werden wollte, ist ja niemandes Schuld gewesen. Sondern die der Gans. Einfach zu alt, das Tier. Gut, der Stollen war trocken. Fast wie Keks. Das hängt ganz einfach damit zusammen, wenn man ihn zu früh kauft. Genauso wie den Weihnachtsbaum, den Vater am ersten Adventssonntag angeschleppt brachte. Ausgesprochen günstig wäre der zu haben gewesen. Schon zu Anfang nadelte der Baum vor sich hin. Heutzutage gibt es hervorragend aussehende Kunsttannen. Die sind jedes Jahr wieder wie neu. Und kosten dann auch nichts mehr. Am Abend schließlich die verdammte Weihnachtssingerei! Stimmt, Ines, und auch ich, wir kannten weder Melodie noch Text. Hätte man eben vorher mal ein bisschen üben sollen. Aber keiner hatte was gesagt, keiner! Danach der Besuch im Dom. Himmel und Menschen. Man hätte sich eine Setzleiter mitbringen sollen, um halbwegs mitzukriegen, was sich da vorn am Altar so abspielte. Und dass es die gesamte Weihnachtszeit über regnete, anstatt zu schneien, dafür konnte nun wirklich niemand etwas.

Nein, dieses Jahr wird alles richtig gut. Jedenfalls haben wir uns das fest vorgenommen. Vati faselt immerzu von „wohltemperiertem Weihnachten“. Irgendwo muss er das Wort aufgegabelt haben. „Wohltemperiertes Klavier“, das hatten wir im Musikunterricht, das da von Bach, aber „wohltemperierte“ Weihnachten? Ja, meinte Vater und stimmte dazu seinen Dozierton an, das Wort hätte eben nicht nur etwas mit der Klavierstimmung zu tun, sondern auch ganz allgemein mit Stimmung. Und zwar in dem Sinne, in dem die Festtage künftig von ihm geplant würden: stressfrei! Keine Gans (wir wären alle ohnehin zu dick), nur ein bisschen was zu knabbern, und Weihnachtsbäume würden wir uns auf einem Waldspaziergang ansehen. Draußen in der Natur ließe sich wunderbar auch das Singen üben. Am Abend Weihnachtsgottesdienst in einer der Dorfkirchen der Umgebung, schön überschaubar alles. Und: keine Geschenke! – Keine Geschenke? Wieso, warum, wollten wir wissen, Ines und ich. Auch Mutti machte ein langes Gesicht. Vater: Weil das Besorgen und das Kaufen auf Krampf eben Stress bedeute. Außerdem würde dieser Irrsinn einen Haufen Geld kosten. Wir hätten ja sowieso schon alles. Ines meinte, da würde sie auch nicht singen wollen, und nicht im Wald rumspazieren, und auch nicht in so ‘ne blöde Kirche gehen. Recht hat sie, ich mache da genauso nicht mit. Und wie Mutti dreinblickte, würde Vati wohl schön alleine feiern müssen, im Wald und in der Kirche. Schließlich kamen wir alle überein: Weihnachten lieber mit Stress als wohltemperiert! Gerald Wolf

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