Sommer – (k)ein Klischee

Keine Hitze. Kein Besuch im Schwimmbad. Keine von Eis verklebten Hände. Kein Jauchzen von Kindern. Statt dessen ohrenbetäubende Stille.
Stille. So heftig, dass sie in den Ohren schmerzte. Die berühmte Stecknadel, die man hätte fallen hören können, gab es nicht. Denn recht wenig gab es hier, etwa 1.900 Meter über dem Meeresspiegel … ein Bett in einem Zimmer, dessen Wände, Decke und Boden aus Holz bestanden wie der restliche Teil des Bauernhauses auch … irgendwann in der Mitte des 19. Jahrhunderts errichtet … kein Schrank, kein Tisch, kein anderer Einrichtungsgegenstand. Nur Stille – davon gab es sehr viel. So viel, dass mein eigener Atem klang, als würde ein Orkan in meinen Ohren dröhnen. Kein Zirpen der Grillen war zu vernehmen. Kein Windhauch brachte in dieser kühlen Sommernacht das hohe Gras zum Rascheln. Ich lag wach. Seit Sekunden, Minuten, Stunden? Diese Nacht wollte einfach nicht vorübergehen. Zog sich wie erkaltende Glasmasse, die aus dem Ofen genommen worden war, um sie nach dem Herunterkühlen weiterzuverarbeiten.
Dunkelheit. Ich blickte mich um. Die Welt war in Nuancen aus Dunkelgrau und Schwarz erstarrt. Jenseits des Fensters noch mehr Schwarz. Kein Grashalm, kein Berggipfel zeichnete sich ab. Hätte der Mond die umliegende Gegend erhellt, wären wenigstens die nahen Spitzen des Massivs schemenhaft zu erkennen gewesen. Doch der Nachthimmel war wolkenverhangen. Und die nächste größere Stadt mit ihren Lichtern weit entfernt. Im Zimmer gab es keine Lampe, die ich hätte anknipsen können. Es gab nicht mal eine Steckdose. Die Taschenlampe: Zu weit entfernt, als dass ich sie – ohne aufzustehen – von meinem Nachtlager aus hätte erreichen können.
Regungslos. So lag ich da. Sekunden? Minuten? Stunden? Das Ein- und Ausatmen noch immer zu laut. Die Umgebung noch immer zu schweigsam. Der Himmel noch immer ohne Anzeichen von Morgendämmerung. Eigentlich wäre der Gang zur Toilette hilfreich gewesen. Doch die Vorstellung, in dieser rohen Dunkelheit das Bett verlassen und die mehr als 100 Jahre alten abgenutzten Treppen hinabsteigen zu müssen, rief ein Gefühl des Gruselns hervor. „Grusel? Wirklich?“ Meine innere Stimme schaltete sich ein. „Du bist doch nicht Teil eines Stephen-King-Romans! Dies ist lediglich ein einsamer, alter Bauernhof an einem einsamen Berghang irgendwo in den Alpen!“ Und für den Notfall fernab der Zivilisation gab es schließlich auch ein Smartphone in den Tiefen des Rucksacks. Aber dies war kein Notfall, es war lediglich der Beginn eines etwas anderen Urlaubs in ungewohnter Stille und Dunkelheit.
Müdigkeit. Am zweiten Tag der Reise von Regeneration keine Spur. Die Autofahrt hatte mir den letzten Nerv geraubt. Welch glorreiche Idee in den Sommerferien Richtung Süden aufzubrechen ... Während meine Gedanken in einen kühlen Bergsee – umgeben von rauen, steil aufragenden Klippen – eintauchten, saß mein Körper in einem Faradayschen Käfig fest, der zwar vor Blitzen zu schützen vermochte, jedoch die Hitze, die Abgase sowie den Gestank und Staub der Baustelle eifrig aufzunehmen schien. Hätte sich die bunte Karosserie-Schlange auf der Autobahn mit einer Schildkröte duelliert … sie hätte verloren. Immerhin war irgendwann das Ziel – der Ausgangspunkt für eine ausgedehnte Wanderung – erreicht. Nur die Nacht hatte die dringend benötigte Erholung verweigert.
Bewegung. Der Körper schlaff, der Geist müde – er schien noch immer über den klebrigen Asphalt vom Vortag zu kriechen. Widerwillig setzte ich nach dem Frühstück einen Fuß vor den anderen. Mechanisch zunächst. Doch je weiter sich der alte Bauernhof entfernte, je höher sich der ausgetrampelte Pfad schlängelte, desto leichter wurde mein Gang. Trotz des an den Schultern zerrenden Gewichts des Rucksacks. Behände flog ich dem Gipfel entgegen, begleitet vom knirschenden Geräusch der Schritte, dem Pochen des Herzschlags und dem etwas lauter werdenden Ein- und Ausatmen.
Pause. Der Blick schweifte über die zerklüftete, karge Landschaft. Viel Grau, hier und da Braun, ein Fleckchen Weiß, weiter unten Grün – Anzeichen von Vegetation, die ich bereits hinter mir gelassen hatte. Die nächtliche Stille war gewichen. An ihre Stelle trat die Eufonie der einsamen Natur: das kaum hörbare Säuseln des Windes, der warnende Pfiff eines Murmeltiers, hin und wieder das sanfte Plätschern eines Baches und das harte Klackern von Steinen. Als wäre sie niemals erfunden worden, war die Kakofonie der Zivilisation in weite Ferne gerückt: kein Handy-Klingeln, keine aufheulenden Motoren, kein Rattern der vorüberfahrenden Straßenbahn, kein Radio-Gedudel, kein Fernseh-Gemurmel. Auch kein Gezeter der Nachbarn und kein Gejohle der spielenden Kinder.
Halbzeit. Nach mehreren kurzen Pausen und noch mehr entschlossenen Schritten war der Grat erreicht. Knapp über 3.000 Meter – kalt und windig, von Sommer keine Spur. Der Schnee zog es vor, die Zeit bis zum nächsten Winter hier oben zu überbrücken. Ich zog es vor, auf der anderen Seite des Grates zügig hinab ins Tal zu wandern. Ein Glühwein im Juli hätte jetzt gutgetan. Oder ein heißes Süppchen. Bewirtete Hütten sind in dieser unwirtlichen Gegend jedoch Mangelware. Und der Weg zur nächsten Unterkunft war noch weit. Also Müsliriegel und kühles Bergwasser auf dem Felsvorsprung statt Ice in the sunshine. Wieder ließ ich den Blick schweifen und fragte mich, wo man in diesem Gipfel-Wirrwarr noch Menschen antreffen könnte.
Zivilisation. Am Abend dann – nach einem langen, kräftezehrenden und von einem Gewitter begleiteten Abstieg – fand ich sie: Menschen. Gezeichnet von der Höhensonne und dem schwierigen Auf und Ab in den Bergen. Eine kleine Gruppe, verbunden durch die gemeinsame Nutzung der Unterkunft. Freunde für einen Abend und einen Morgen, bevor man sich wieder trennte und zu einer neuen Etappe voller Herausforderungen aufbrach, die den Entwöhnungsprozess von den Dingen des Alltags beschleunigte. Warmes, fließendes Wasser sollte in den kommenden Tagen der einzige Luxus sein, auf den ich Wert legte, um mich nach der Abkühlung des Sommers aufheizen zu können. Die Schlafprobleme – egal, wie das Nachtlager eingerichtet war – hatten sich zwischen den Gipfeln zerstreut. Unter diesen Umständen gewöhnt man sich schnell an die schreiende Stille und die alles durchdringende Dunkelheit.
Reset. Nach zehn Tagen Wanderung durch einen kleinen Teil der Alpen neigte sich der puritanische Urlaub dem Ende entgegen. Die letzten Höhenmeter waren überwunden, bevor die Schmerzgrenze der Beine überschritten werden konnte. Der Körper erschöpft, der Geist erholt. Es brauchte nicht viel, um zu entspannen. Von nachhaltiger Wirkung konnte jedoch nicht die Rede sein. Schließlich stand noch die Rückfahrt in die Zivilisation bevor … Tina Heinz

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