Psyche: Krank gemacht oder krank geforscht?

Die Erkenntnisse in zahlreichen Wissensgebieten zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wachsen. In der Bildungswissenschaft und Psychologie ist das Untersuchungsinstrumentarium schier unüberschaubar geworden. Und dann das: Jeder vierte junge Mensch zwischen 18 und 25 hat psychische Probleme. Jedensfalls weist dies eine Untersuchung der Barmer Ersatzkasse aus. „Allein in den Jahren von 2005 bis 2016 ist die Zahl der betroffenen 18- bis 25-Jährigen in Deutschland über alle Diagnosen hinweg um 38 Prozent von rund 1,4 Millionen auf insgesamt 1,9 Millionen gestiegen“, sagte der Barmer-Vorstandsvorsitzende Christoph Straub.

Depressionen, Angststörungen und Panikatta-cken sind die vorrangig registrierten psychischen Beeinträchtigungen. Allein bei 557.000 wurde eine Depression diagnostiziert. Dies sei eine Steigerung von 2005 um 76 Prozent. Selbst unter Studenten, die ursprünglich als gesunde Gruppe gesehen wurden, sind psychische Erkrankungen auf dem Vormarsch. Jeder 6. Student, insgesamt 477.000, litten an psychischen Beeinträchtigungen. „Gerade bei den angehenden Akademikern steigen Zeit- und Leistungsdruck kontinuierlich, hinzu kommen finanzielle Sorgen und Zukunftsängste“, erklärte Straub.

Doch öffnen die Diagnosen über die Entwicklung psychischer Erkrankungen wirklich den Horizont für das Problem? Was sind die angemessenen Maßstäbe für Leistungs- und Existenzdruck? Wie hoch waren eigentlich die psychischen Belastungen der Kriegs- und Nachkriegsgeneration? Da waren Hunger, Obdachlosigkeit, mangelndes Einkommen, alleinerziehende Frauen mit Kindern ohne Kinderbetreuungsangebote und staatlicher Versorgungssicherheit an der Tagesordnung.

Paradox erscheint vor allem das Phänomen, dass wir aufgrund der vielen Forschungsbereiche heute so viel über die Psyche wissen, sie aber in der Konfrontation mit der Realität nicht schützen können. Oder sind es am Ende gar die Grenzziehungen selbst, unter der wir ganze Bevölkerungsgruppen psychophatologisieren. Sicher gab es in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts kein Netz einer psychotherapeutischen Versorgung und damit blieben viele Betroffene mit ihren Leiden allein. Außerdem wurden Besuche bei Psychotherapeuten oder Psychiatern häufig noch mit „ich bin doch nicht verrückt“ zurückgewiesen.

Vielleicht erzeugt sich der Druck auf die junge Generation auch aus dem Anspruch der Eltern, ihrem Nachwuchs einen leichten Weg ohne Beschwernisse zu ermöglichen. Wer keine oder wenig Beschwernisse kennen- oder zu überwinden lernt, für den ist wenig Belastung zugleich der höchste Maßstab für die eigene Leistungsfähigkeit. Und offfensichtlich führt eine Wissensvertiefung und Forschungsausbreitung ziemlich automatisch dazu, auch noch dort Probleme zu erkennen, wo bisher noch nie welche gesehen wurden. Noch nie wurde in der deutschen Geschichte so viel über die Psyche von Menschen erkundet, aber gleichzeitig wurden noch nie so viele Beeinträchtigungen und Gefahren erkannt. Irgendwie muss es da einen Zusammenhang geben. Thomas Wischnewski

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