Die Magie der Worte

Die Geschichte in einem Buch fesselt seine Leser, oft sogar intensiver, als es ein Filmerlebnis kann. Was macht die Spannung und Faszination einer Lektüre aus? Der Versuch einer magischen Beschreibung.  

Filme können spannend sein. Gebannt hängt man als Zuschauer am Fortgang der Geschichte. Oft baut so ein Streifen auf die Vorlage eines Romans. Wer zuvor oder auch anschließend das Buch zur filmischen Inszenierung liest, erlebt häufig, dass die gedruckte Erzählung einen ganz anderen, oft einen viel tieferen Eindruck hinterlässt, als es die Schauspieler auf der Leinwand oder dem Bildschirm vermögen. Woran liegt das? Wie erklärt sich die Magie des Lesens und die ungebrochen starke Wirkung von Büchern?

„Im Anfang war das Wort …“, so beginnt das Johannesevangelium. Ob die Sprache – auf welche mystische Weise auch immer – ein Gottesgeschenk ist oder ein Ergebnis der Evolution, kann hier ganz vernachlässigt werden. Wir sind heute unmittelbar der sprachlichen Bedeutungssetzung verbunden und nichts hätte einen Sinn ohne eine Benennungsmöglichkeit. Man muss einerseits auf die Vermittlung von Sprache schauen und auf den Fortgang des Lebens, um Begriffen und deren Semantik auf die Spur zu kommen.

Jedes Wort, das wir verinnerlicht haben, ist Ergebnis eines Lernprozesses. Zu sich selbst „Ich“ sagen zu können, folgt aus der elterlichen Vermittlung. Spätestens mit drei Jahren beginnt ein Kind die Ich-Form zu nutzen. Dasselbe Wort nutzt der Mensch aber auch noch mit 85 Lebensjahren. Obwohl Jahrzehnte vergangen sind, eine Persönlichkeit heranreifte, Wissen erwarb, Erfahrungen machte und unzählbar viele Erlebnisse in den Erinnerungen stecken, bleibt das Wort „Ich“ zur Selbstbenennung unverändert. Niemand wird bestreiten, dass zwischen Dreijährigen und Menschen am Lebensende ein gewaltiger Unterschied liegt. Dennoch bleibt das Wort „Ich“ stabil. Letztlich geht es uns mit allen gelernten Begriffen so. Vielschichtigkeit und Verständnis über ein Wort resultieren aus dem eigenen Wissen und den gemachten Erfahrungen. Wer sich in der Botanik auskennt, dem werden zum schlichten Wort „Baum“ und ohne weitere genannte Merkmale unzählige Arten einfallen, mehr jedenfalls als jemandem, der noch nicht einmal die einheimischen Gewächse vollständig aufzählen kann. Jedes Wort ist quasi nur ein Modell bzw. ein sehr grobes Raster, dass sich über eine erkannte Realität legt. Und das alles läuft automatisch im Gehirn ab.

Hier findet man auch schon den wesentlichen Unterschied zwischen einem Film und einem Buch. Es sind die Bilder, die das Geschehen zusätzlich markieren und definieren, es sozusagen in einen konkreten Zusammenhang setzen. Umgebung, Räume, Gesichter – alles ist neben den Dialogen mit sichtbaren Widerspiegelungen besetzt. Beschreibt eine Schriftstellerin einen Ort, einen Menschen, arbeitet sie in der Darlegung der Geschichte einen Charakter heraus, gibt es ausschließlich Worte – also nur Modelle – die man als Leser aufnimmt. Die Vorstellung über eine beschriebene Szenerie baut sich im Geist eines Rezipienten auf. Die Vorstellungskraft, der Facettenreichtum eines Lesers hängt – wie das Beispiel des Botanikers zum Kenntnisreichtum über Pflanzen zeigt – vom Wissens- und Erfahrungsschatz ab.

Man kann sogar noch eine Stufe tiefer steigen und auf die blanke Symbolik eines geschriebenen oder gedruckten Wortes schauen, um zu erkennen, dass die Komplexität des Begreifens, des gedanklichen Ausmalens einer Geschichte, viel mehr mit einer Leserin oder einem Leser zusammenhängt als mit einer Autorin. Schauen Sie bitte genau auf die hier gedruckten Zeichen. Im Grunde sind es Striche, Bögen und Punkte – also ein Code, den wir nur in Bedeutungen kleiden können, weil wir ihn gelernt haben zu lesen. Ein Analphabet würde ratlos vor dem Sammelsurium an Buchstaben stehen und nichts darin erkennen können. Das Hirn leistet beim Lesen wahrscheinlich einen ähnlichen Prozess wie beim Betrachten einer Karikatur. Ein paar charakteristische Linien reichen, um ein bekanntes Gesicht wiederzuerkennen. So sind es reine Linien, aus denen man Wortbedeutungen zu einer Geschichte aneinanderreiht.

Lesen Sie ein Buch zweimal! Bestenfalls schmökerten Sie die erste Lektüre in jungen Erwachsenenjahren. Zehn oder zwanzig Jahre später werden Sie ganz neue Erfahrungen mit dem Werk machen. Es ist Ihr reicher gewordener Geist, der einem Roman zu späterer Zeit völlig neue Sichtweisen schenkt. Nicht nur, wenn zwei dieselbe Abhandlung studieren, kommen dabei ganz unterschiedliche Beurteilungen heraus, sondern sogar bei ein und derselben Leseratte, die eine Geschichte in unterschiedlichen Lebensphasen verschlingt. Die Magie der Worte ist in jedem selbst. Oder anders gesagt: Ein Buch lesen ist eine Art der Selbstverführung.

Im Zeitalter des Internets sind Worte permanent und überall verfügbar. E-Books haben sich etabliert. Hörbücher fanden ihre Liebhaber. Und einige Zeit glaubte man, die virtuellen Bücher, die nicht schwer zu tragen sind, werden den gedruckten Werken bald den Garaus machen. Weit gefehlt. 2016 zählte man 30,8 Millionen Buchkäufer in Deutschland. Und alle jährlichen Neuerscheinungen aneinandergereiht würden eine Buchreihe von 2,3 Kilometern ergeben. Auf der Beliebtheitsskala der deutschen Freizeitbeschäftigungen rangiert das Buchlesen auf dem 14. Platz. Es geht von der gedruckten Lektüre nach wie vor eine große Faszination aus. Die kleine Heimbibliothek ist übrigens auch noch nicht vom E-Book abgelöst worden. Wem wollte man auch tausende virtuelle Bücher auf dem E-Book-Reader zeigen? Und wir wissen mittlerweile, dass ein haptisches Lesevergüngen doch eine wirkungsvollere Inhaltsverinnerlichung erzeugt, als die Aufnahme an einem Bildschirm.

Worten haftet also stets ein Zauber an, natürlich auch jeder mögliche Schrecken. Sehr gute Erzähler, deren Geschichten Verbreitung finden, verführen uns mit der Eigenheit ihrer Abhandlung und gleichfalls vermengen sie mit ihren wohlsortiert aneinandergereihten Buchstaben ihre Darlegung mit dem Geist der Leser. Wie intensiv man Schönes oder Schreckliches in einem Roman erlebt, bleibt ein Geheimnis der eigenen Bedeutungsvermengung mit den Schriftzeichen des Autors. Deshalb haftet einem Buch oft viel mehr Zauber an als einem Film. Die Schrift ist nur Auslöser für ein Eintauchen in eine kreative Gedankenwelt, in das geistige Ausmalen und die eigene Fantasie. Thomas Wischnewski

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