Gedanken- & Spaziergänge im Park: Schamlose Akte gegen Akte

Vor ein paar Monaten hatte ich die Befürchtung, dass die amerikanische Bilderstürmerei zu uns hinüberschwappen würde. Anscheinend beginnt es jetzt schon. Allerdings ist es in der Hauptsache mehr der sogenannte Sexismus als die Politik. Ich konnte es nicht fassen, als ich kürzlich in der hiesigen Tageszeitung las, dass an einem Hallenser Gymnasium ein Wandbild entfernt werden soll, das ein asiatisches Mädchen zeigt. Nur weil eine kleine Gruppe fanatischer Ideologen oder Ideologinnen darin eine untertänige Weiblichkeit zu erkennen glaubt. Weiter: Im November 2016 berichtete dieselbe Zeitung darüber, dass die Magdeburger Künstler Gandhi und Müller ihre Bilder nicht in der Galerie Eisenbarth der kassenärztlichen Vereinigung hängen durften, weil sehr viele Akte dabei zu sehen waren. Angeblich würde das bei Besuchern Anstoß erregen. Dankenswerterweise fand dann die Ausstellung in der Schlossküche von Klaus Vogeler statt und es gab einen riesigen Andrang von Besuchern, von denen sich keiner über die Akte beschwerte. Nun könnte man das Verhalten der kassenärztlichen Vereinigung und ihrer Galerie einfach als provinziell abtun – leider ist es aber eben ein Symptom einer gesamtgesellschaftlichen Erscheinung, die sich allmählich ausbreitet.

Mich erinnert das an eine Zeit vor über 50 Jahren in der DDR. Ende 1962 veranstalteten Studenten der Medizinischen Akademie im zentralen Hörsaal eine Kunstausstellung mit eigenen Werken. Viele davon entsprachen nicht den Maßstäben des sozialistischen Realismus. Ein Alex Ständel führte Studenten der pädagogischen Hochschule (wen sonst!) dorthin, die lauthals ihre Empörung kundtaten. Die Lokalpresse verurteilte in zwei ganzseitigen Artikeln die Ausstellung und bezeichnete die Studenten als „Apologeten des Unsinns“.  Aber auch noch heute macht neuer Irrsinn vor der Kunst nicht halt. Anfang November wurden auf Beschluss des AStA die Aktbilder der Künstlerin Marion Vina in der Mensa der Universität Göttingen wieder abgehängt. An der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin das Gedicht eines Dichters, dem die Hochschule selber vor Jahren einen Poetikpreis verliehen hatte, von der Wand entfernt, weil es „patriarchalisch“ sei. So beschloss es der dortige AStA. Ich bin mir fast sicher dass die große Mehrheit der Studenten dieser Hochschule nie Anstoß an diesem Gedicht genommen hat und das Diktat dieser wenigen Fanatiker nicht teilt. Wenige Lautstarke übertönen die Mehrheit.

Vielleicht denken auch manche: der Klügere gibt nach. Nur wenn die Klügeren immer nachgeben, bleibt am Ende die Dummheit Sieger. Wohin soll das noch führen? Werden die Museen früher oder später herrliche Bilder abhängen und in den Magazinen verschwinden lassen, wenn sie Nacktheit, insbesondere weibliche Nacktheit, zeigen? Oh, was wird aus der Venus von Milo werden? Oder die herrliche Geburt der Venus von Botticelli, die wunderbaren Akte von Modigliani? Ich mag mir das gar nicht ausmalen. Unsere Tugendwächter haben dann noch ein weites Feld vor sich und ich befürchte, dass sie nach den ersten kleinen Erfolgen immer mutiger und selbstherrlicher vorgehen werden.

Letztlich ist das ganze ja eingebettet in das Thema „Sexismus“ und wird noch durch die laufende Debatte über den sexuellen Missbrauch „#MeToo“ befeuert. Man gewinnt den Eindruck, dass Sexismus mit Sexualität gleichgesetzt wird. Auch wird der Unterschied zwischen sexueller Gewalt auf der einen Seite und schlechtem Benehmen, Unhöflichkeiten und Grobheiten auf der anderen Seite verwischt. Es reicht schon ein Verdacht, um einen Menschen öffentlich an den Pranger zu stellen und ihn gewissermaßen zu einer Unperson werden zu lassen. Man denke nur an die Affäre Kachelmann! Wobei ich nicht in Abrede stellen will, dass auch die Machtverhältnisse von sehr einflussreichen Männern auf das gemeinste ausgenutzt wurden. Und doch taucht im Hinterkopf die Frage auf, warum sich manche berühmte Frauen erst jetzt damit zu Wort melden und es damals geduldet bzw. erduldet haben, dass der Mächtige seine sexuellen Bedürfnisse an ihnen und mit ihnen befriedigte. Erduldeten sie es vielleicht auch ihrer Karriere halber? Und haben sie nicht diese oder jene Konkurrentin, die schon damals im Gegensatz zu ihnen „nein“ sagte, damit aus dem Felde geworfen? Viele Fragen, die noch unbeantwortet sind. Die aber auch keiner stellt! Und so beginnt allmählich die natürliche menschliche Sexualität zu einem Problem zu werden. So schrieb ein Lars Weinbrod vor wenigen Wochen in der Zeit einen Artikel, dass der Verkehr zwischen den Geschlechtern vertraglich geregelt werden müsse. Ich hielt das anfangs für eine Satire – aber nein, das war ernst gemeint! Es sollte schriftlich ein Vertrag vereinbart werden, dass beide das wollen und was dabei erlaubt ist und was nicht. Fast ein Thema für Kabarettisten: Muss der Vertrag dann auch notariell beglaubigt werden? Und kann man die vereinbarten Leistungen auch einklagen? Gibt es ein Rückgaberecht, wenn die Leistungen nicht den Erwartungen entsprochen haben? Soll Geschlechtsverkehr wie der Straßenverkehr gesetzlich geregelt werden? Irgendwie mutet es doch absurd an. Ich stelle mir eine Szene vor, wo ein junger Mann in einem Café sitzt und am Nebentisch eine junge Frau, die ihm gefällt und mit der er gern flirten würde. Muss er jetzt hingehen und fragen: „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich beginne mit Ihnen zu flirten? Nein? Können Sie mir das schriftlich geben?“

Erinnern Sie sich, liebe Leser, wie das ist oder war bei einem Flirt? Kleine Anspielungen, Doppeldeutigkeiten, eine scheinbar zufällige Berührung von Hand zu Hand? Ist das dann schon Belästigung? Ich weiß nicht, warum wir uns das Leben so kompliziert machen sollen. Psychologisch ist es ja noch viel komplizierter: aus der Psychoanalyse wissen wir, dass das Über-Ich, wie Freud es nannte, durchaus nein sagt, während das Es – das Triebhafte – schon längst innerlich ja sagt und auch unterbewusst positive Zeichen wie Blicke und Gesten aussendet. Es gibt die wunderlichsten Auswüchse der Tugendwächter: Kürzlich las ich, dass sich in England eine Mutter über das Märchen Dornröschen beschwert, weil der Prinz die schlafende Prinzessin ohne ihre vorherige Einwilligung küsste! Und wie oft kommt es in Märchen vor, dass ein König, wenn er sich in einer misslichen Lage befindet, dem Retter das halbe Königreich und die Prinzessin zur Frau versprach! Ohne die Prinzessin vorher zu fragen! Was wird von der Märchenwelt dann noch übrig bleiben, wenn unsere tugendhaften Reinigungskräfte ihre Ausrottungsarbeit leisten?

Wenn das so weitergeht, werden wir noch ein Tugendstaat. Davor hätte ich tatsächlich Angst, denn in der französischen Revolution wurde unter Robespierre die Tugend zur Staatsreligion erhoben. Die Folge waren massenhafte Hinrichtungen mit der Guillotine und Ströme von Blut. Paul F. Gaudi

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