Ohne die Meusslings keine Konzerte

Mit einem mitreißenden Klassikkonzert mit dem charmanten holländischen Dirigenten Gerard Oskamp beendete die Mitteldeutsche Kammerphilharmonie am 9. September 2018 den diesjährigen Pretziener Konzertsommer in der St. Thomaskirche. Solistin war die Cellistin Elena Tkachenko. Sie weckte Neugierde auf die musikalische Fortsetzung im kommenden Jahr. Warum diese Konzertreihe überhaupt Jahr für Jahr an dieser Stelle stattfinden kann, ist einer anderen Geschichte zu entnehmen.

1973 machte die Restauratorin und Schriftstellerin Maria Meussling (76) eine sensationelle Entde-ckung in der Pretziener Kirche: Unter dem Anstrich der nördlichen Apsis konnte sie ein Fresko mit einer überlebensgroßen Maria-Darstellung freilegen. Ihr Mann, Rüdiger Meussling, informierte das damals zuständige Institut für Denkmalpflege in Halle. Aber erst im November darauf kam ein Denkmalpfleger nach Pretzien, um sich das Fresko mit Maria und Johannes sowie eine Christus-Darstellung in der Regenbogenmandorla anzusehen. 1971 war die Kirche als erhaltenswertes, denkmalgeschütztes Bauwerk aufgegeben worden.

Inzwischen war Rüdiger Meussling Seelsorger für die Gemeinden Plötzky, Pretzien und Ranies geworden. Die Meusslings nahmen sich der romanischen Kirche in Pretzien an und organisierten mit vielen Helfern eine mehrjährige Instandsetzung. Bis 1977 zog sich die weitere Freilegung romanischer Malerei auf 94 Quadratmeter Fläche hin. Im September 1975 initiierten die Meusslings neben den Gottesdiensten erstmals eine Musikveranstaltung. Die mittlerweile traditionelle Konzertreihe zieht Gäste aus nah und fern an. Und dies unter den sorgsam restaurierten romanischen Malereien.

Eine weitere Überraschung erfuhren sie am 14. September 1975 gemeinsam mit dem damaligen Küster Fritz Kersten: Das Licht fiel Punkt 19 Uhr vom runden Turmfenster auf den gekreuzigten Christus auf dem Altar. Seither wird das uralte Fest „Christi Kreuzerhöhung“ jährlich feierlich begangen. Die wieder gefundenen Malereien stammen vermutlich aus der Zeit von 1220 bis 1230 und die Kirche aus romanischem Bruchsteinbau soll nach Dehio in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gebaut worden sein. Laut den Meusslings wurde die Kirche zwischen 1140 und 1150 von Prämonstratenser-Mönchen des Klosters Leitzkau im Auftrag Albrechts des Bären erbaut. Der Turm mit seinem Fachwerkaufsatz mit der barocken Zwiebelhaube stammt dagegen erst aus dem Jahr 1793. Der kleine Vorbau am Eingang ist um 1900 errichtet worden.

Im Zuge der Kircheninstandsetzung kam 1974 auch ein gotischer zwölfseitiger Taufstein mit profiliertem Rand an seinen ursprünglichen Platz. Sehenswert ist der 1980 vom bereits verstorbenen Metallkünstler Johann Peter Hinz aus Halberstadt geschaffene Christus am Kreuz in der Christopherus-Kapelle. Von ihm stammt ebenso die Halterung für die Taufschale (1981). Im Durchgang zur Kapelle befindet sich das Fresko „Himmlisches Jerusalem“ des auch schon verstorbenen Grafrather Künstlers Hubert Distler. Die Orgel am Eingang zum Heiligen Grab mit der blätterförmig beschlagenen Tür wurde 1992 von der Halberstädter Firma Hüfken gebaut und vom Organisten Prof. Dr. Matthias Eisenberg disponiert. Er bereichert seitdem die Pretziener Konzertsommer mit Orgelkonzerten. Die Kirche ist dem 1170 vor seinem Altar ermordeten Bischof von Canterbury Thomas Becket geweiht. Eine Darstellung im Chor weist in der Kirche darauf hin.

Nicht ohne Grund sprechen Rüdiger und  Maria Meussling von „ihrer Kirche“. Die Instandsetzung ist ihr Lebenswerk, die Ehrung der beiden mit dem Bundesverdienstkreuz deshalb  eine Würdigung für ihr Engagement. Es ist zu wünschen, dass die Pretziener Kirche noch von vielen Besuchern angesteuert wird. Seit 1993 gehört sie als eine der schönsten Dorfkirchen zur sachsen-anhaltischen Tourismusroute „Straße der Romanik“. Ohne die Meusslings wäre daran nicht zu denken gewesen. Volker A. W. Wittich

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